Sarah Berger im Interview

Porträt von Sarah Berger (credits: Sarah Berger)

Am Samstag lesen die Autor*innen Sarah Berger und Sofie Lichtenstein bei uns ihre autofiktionalen und autobiografischen Texte. Wir haben im Vorfeld ein Interview mit Sarah Berger geführt, in der sie uns mehr über ihre neuen Bücher, autofiktionales Schreiben und die Bedeutung sozialer Medien für ihr künstlerisches Schaffen erzählt.

Dein neues Buch „bitte öffnet den Vorhang“ stellt eine Sammlung von 2009 bis 2019 im Internet entstandener Fragmente dar. Was hat dich dazu bewegt, die Texte noch einmal separat als Buch zu veröffentlichen?

„bitte öffnet den Vorhang“ ist in Zusammenarbeit mit dem Herausgeber Marc Degens und der Lektorin Sofie Lichtenstein entstanden. In meinen Texten und Tweets steckt viel autofiktionales Potential. Die Autofiktion ist eine für mich spannende Form, in der ich auf ein größeres Narrativ und Figurenentwicklung verzichten kann. Fragmente, die kleine Szenen des Alltags umreißen oder die situativen Gedanken und Gefühle einer Figur wiedergeben, lassen den Leser_innen Raum, sich selbst ein Narrativ zwischen den Absätzen zu spinnen. Sehr inspirierend finde ich bspw. die Arbeiten von Megan Boyle, Ianina Ilitcheva oder „Arbeit und Struktur“ von Wolfgang Herrndorf. Als Marc Degens auf mich zukam und mir anbot, ein Buch in der Reihe „Sonnenbrand“ zu verwirklichen, war das die perfekte Gelegenheit, all die Texte, die ich in den letzten Jahren mit der Stimme meiner Figur @milch_honig auf den unterschiedlichen Plattformen geschrieben und veröffentlicht hatte, in einer überarbeiteten Fassung zusammen zu bringen, damit diese Texte eine gemeinsame, von der Zeit und den Plattformen losgelöste, Wirkung entfalten können. In der Sendung „Literaturagenten“ auf Radioeins vom 30.08.2020 sagte der Autor David Wagner über „bitte öffnet den Vorhang“: „[Berger] ironisiert und pathologisiert die Selbsterzählung, die soziale Medien hervorgebracht haben. [Sie] kreiert in diesem Buch eine übersteigerte Kunstfigur, ein Erzähler_innen Ich, welches schon konzeptionell die Form einer radikalen Selbstentblößung, im Ganzen genommen die Selbstdarstellung, die in unseren Social Medias heute passieren, ironisiert und auf die Spitze treibt, die das Krankhafte des Ganzen zeigen.“ – wie ich finde, trifft es das ganz gut.

Die Texte sind zuerst auf Plattformen wie Twitter, Facebook und Instagram veröffentlicht worden. Was ist für dich reizvoll am Schreiben in sozialen Medien?

Die Plattformen bieten eigene gestalterische Mittel und Einschränkungen, die zum Experimentieren anregen. Sie verfügen über reichlich Platz, um als Künstler_in mit den eigenen Arbeiten in Erscheinung treten zu können. Ich habe diese Plattformen immer wieder anders als Experimentierflächen und -räume für mich nutzen können, bspw. um mich in eine Figur einzufühlen oder um poetische, ästhetisierte Gedanken testweise an ein Publikum heranzuführen. Ich kann auf Twitter und Facebook in eine literarische Sprache finden, sie austesten und sie einüben. Ich kann auf Instagram meine Bilder ausstellen und ein Gefühl dafür bekommen, welche Fragen sie aufwerfen. Social Media ist für mich ein Ort der Inspiration. Viele Künstler_innen, vor allem aus der queeren Kunstszene, habe ich erst mittels dieser Plattformen kennen gelernt; schon allein deshalb, weil sie häufig im regulären Kulturbetrieb nur wenig Raum bekommen und daher auf Social Media als Ausstellungsraum ausweichen müssen.

Körper sind ein zentrales Thema der Texte. Das Buch enthält auch einige Bilder, die sich auf sehr unterschiedliche Art und Weise mit Blicken auf Körpern auseinandersetzen. Wie unterscheidet sich für dich die Inszenierung eines Körpers im Text von der im Bild?

Beide künstlerischen Ausdrucksformen verweisen mich mit ihren jeweiligen Mitteln auf das genuine Problem der Geworfenheit: Innerhalb des literarischen Schreibens versuche ich nicht nur das Innenleben meiner Figuren greifbar zu machen, sondern auch den Körper als konstitutiver, evidenter Bestandteil der menschlichen Existenz sichtbar zu machen, der die Dichotomie verhandelt, sowohl Resonanzraum des Ichs, als auch dessen physikalische Begrenzung zu sein. Das gleiche Spiel in der Fotografie: Hier fungiert der Körper zwangsläufig in seiner äußeren Begrenztheit als eine Oberfläche, auf welcher sich die Gefühlswelt und das ihr Ausgeliefertsein abspielen. Daher passen für mich die Genres der Autofiktion und des Selbstportraits gut zusammen, bedingen sich gegenseitig. Besondere Inspiration sind mir da Künstler_innen wie Sophie Calle, Francesca Woodmann und Cindy Sherman.

Im Fragment 411 schreibst du, dass du niemals Mensch sein wolltest und dass es dir reicht, Figur zu sein. Welche Beziehung besteht für dich zwischen Figur und Mensch?

Die Figur macht sich mit diesen Worten selbstständig, ermächtigt sich. Innerhalb der Chronologie des Buches steht Fragment 411 am Anfang, also markiert den Moment, in welchem sich die Figur vom Mensch-Sein der Autor_in ins Fiktionale des Buches (er)löst. Ob es wirklich eine Erlösung ist, diese Frage zu beantworten, überlasse ich lieber den Leser_innen. Ich verweise an dieser Stelle auf die Arbeit zur Poetik radikaler Verletzbarkeit von Lea Schneider. Was ich aber verraten kann: Fragment 411 war jahrelang das Motto bzw. die Bio meiner Twitter Persona @milch_honig (mittlerweile @sei_riots) und galt als Hinweis darauf, den Account literarisch zu lesen. Das hat natürlich nicht immer geklappt.

Es erscheinen dieses Jahr noch zwei weitere Bücher von dir – „Sex und Perspektive“ und „Lesen und Schreien„. In welchem Verhältnis stehen die drei Bücher zueinander?

Die Texte und Bilder dieser drei Bücher, so wie sie jetzt vorliegen, sind mehr oder weniger im gleichen Zeitraum zwischen 2018 und 2019 entstanden. Da ich mein eigenes Material immer wieder neu arrangiere und re-inszeniere, gibt es einige Fragmente, die sich in verschiedenen Zusammenhängen in allen drei Büchern finden. Dennoch sind die Bücher sehr unterschiedlich, verweisen auf verschiedene künstlerische Ausdrucksformen: Während ich in „bitte öffnet den Vorhang“ vorrangig mit dem autofiktionalen Fragment arbeite, finden sich in „Sex und Perspektive“ ausschließlich Prosatexte, die einen narrativen Gesamtzusammenhang bilden. „Lesen und Schreien“ kann als eine Art Lyrikband verstanden werden. Die dort versammelten Social Media Collagen arbeiten mit Screenshots von Chatverläufen und darübergelegten Textbausteinen, die ich ohne die App Instagram so nicht hätte produzieren können. Alles in allem ist es ein großes Glück, dass diese drei Bücher in einem Jahr erscheinen und damit die Vielseitigkeit meiner literarischen Arbeit zugleich abbilden und gebündelt zugänglich machen.