Interview mit Raquel Erdtmann und Klaus Ungerer über Gerichtsreportagen in den 20er Jahren und heute

Raquel Erdtmann (c) Jens Ihnken; Klaus Ungerer (c) Anusch Thielbeer

Einer „der besten Gerichtsreporter der Weimarer Republik“ (FAZ) und eine Autorin, die durch „Klugheit, Beobachtungsgabe, Witz“ (SZ) beeindruckt, sind am 10. Februar in der Lettrétage (wieder) zu entdecken: DIE SCHÖNSTEN VERBRECHEN, von denen Paul Schlesinger, genannt Sling, und Gabriele Tergit in den 20er Jahren aus Berliner Gerichtsverhandlungen berichtet haben, werden an diesem Abend eine Stimme bekommen – genauer gesagt: zwei Stimmen, dank Raquel Erdtmann und Klaus Ungerer, die ihrerseits für ihre Gerichtsreportagen bekannt sind. Sie werden über ausgewählte Texte von Tergit und Sling sprechen und aus ihnen vorlesen. Was sie an ihren beiden literarischen Vorläufern schätzen und was die Gerichtsreportage als Genre besonders macht, haben sie in einem Interview verraten.

Lettrétage: Lässt sich umreißen, was das Genre der Gerichtsreportage in Ihren Augen auszeichnet? Welchen Reiz übt es aus, welche Herausforderung stellt es?

Raquel Erdtmann: Gabriele Tergit sagte einmal: „Besser als das Werk der Dichter und Historiker gibt die ursprüngliche Quelle, der Brief, das Tagebuch, das aufgezeichnete Gespräch das Wesentliche der Epoche. Die Akten eines Kriminalprozesses bestehen außer dem Formalen aus diesen ursprünglichen Quellen zur Erkenntnis der typischen Gefühle einer Zeit“. Spätestens seit den 1920er Jahren, in denen Tergit, Sling und auch Tucholsky als Gerichtsreporter unterwegs waren, war das Genre überaus beliebt beim Publikum, ja steigerte sogar die Auflage der Zeitungen. Es ist der Blick hinter die Fassade, in unsere eigenen Abgründe, in das, was uns ausmacht, die stellvertretend für uns vor Gericht behandelt werden. Denn was einen Menschen ausmacht, zeigt sich, wenn er in Extremsituationen kommt.

Vor Gericht werden nicht nur Taten verhandeln und abgeurteilt; Lebensumstände, Lebenszwänge der Beteiligten werden freigelegt, wie nirgendwo sonst. So entsteht ein Bild der Zeit, in der wir leben. Das ist der Grund, warum meine Gerichtsreportagen für die F.A.Z. (die Sonntagsausgabe) im Politikteil erschienen. Gerichtsreportagen sind gesellschaftspolitisch, weil sie Einblick in Parallelwelten, uns fremde Lebenswirklichkeiten bieten, die es erst einmal überhaupt zu sehen und dann zu verstehen gilt.

In den 1920er Jahren für die Leser der „Vossischen Zeitung“ oder dem „Berliner Tageblatt“, für die Tergit und Sling schrieben, war es unter anderem auch das Hinterhof-Proletariat mit seiner erdrückenden Armut, die Heerscharen von an Leib und Seele Kriegsverstümmelten des I. Weltkriegs, die im großen politischen Getriebe um ihr kleines Glück kämpften. Und immer geht es natürlich auch um unsere uralten Fragen: die Liebe, und was man dafür hält, Gier und Geiz.

Die (gute) Gerichtsreportage heute erzählt nicht nur nebenbei Sozialgeschichten; sie berichtet auch von der Zerrissenheit zwischen Kulturen, dem, was von außen zu sein scheint, und dem, was hinter der Wohnungstür herrscht. Sie kann außerdem, en passant, vermitteln, besser hinzusehen, zum Beispiel, was häusliche Gewalt oder Kindesmisshandlung betrifft. Meines Erachtens liegt die Herausforderung einzig darin, wie im täglichen Leben, den Menschen möglichst vorurteilsfrei zu begegnen. Herablassung und Abwertung sind fehl am Platz, aber leider verbreitet, vor allem, wenn man nur kurz in eine Verhandlung hineinrauscht auf der Suche nach einer „Story“. Humor ist aber immer eine feine Sache, im Leben wie im Gericht.

Ein jeder sehe selbst in den Spiegel und dekliniere sich ehrlich sein eigenes Leben einmal durch. Dass es nicht zu Straftaten kommt, ist ziemlich oft nur Glück. So weit, wie viele denken, hoffen, meinen von sich, ist der Schritt zur Anklagebank nicht. Die Firnis ist sehr dünn, die meisten Menschen wissen das, vielleicht suchen sie nach den Stellschrauben, vielleicht nach Katharsis, nach Widerhall in den Geschichten über wahre Verbrechen.

Nebenbei, und das halte ich für sehr wesentlich, vermittelt die Gerichtsreportage ein Verständnis und ein Vertrauen in unserer Rechtssystem. Ich habe es bei meinen Lesungen oft genug erlebt, wie sich Aversion, Abscheu über Taten und Urteile verwandelten in Verständnis – wenn die Leute die ganze Geschichte erzählt bekommen. Das geht natürlich nur, wenn man sich als Reporter die Mühe macht, auch die ganze Geschichte zu hören.

Klaus Ungerer: Als junger Mensch habe ich exzessiv Tucholsky gelesen, und da fand ich das auch schon toll: Gerichtsreportagen. Und zwar nicht als Newsbericht. Sondern als literarisches Format. Als Sozialporträt abseits der „großen“ Ereignisse. Mir selber hat dabei immer extrem gefallen, dass man den üblichen Journalismus doppelt brechen kann: Erstens nimmt man sich alle literarische Freiheit in der Darstellung, auch wenn man so eng als irgend möglich an den Fakten klebt. Zweitens wirft man ein Schlaglicht auf das echte Leben, auf echte Menschen. Natürlich ist jeder Strafprozess eine Inszenierung. Jede der beteiligten Personen inszeniert sich. Aber was man da zu sehen bekommt, ist doch immer noch wesentlich echter und glaubwürdiger als z.B. eine Reportage im „Spiegel“.

Mein größter Spaß war es immer, im Zentrum der so genannten Hochkultur, dem FAZ-Feuilleton, Geschichten von ganz normalen Menschen zu erzählen. Kein Tanztheater, keine verschwurbelte Kulturinteressenten-Debatte. Einfach nur jemand aus dem Wedding, der Stress mit seinem Mitbewohner hat, und der Stress eskaliert dann halt. Das gab es als literarisches Genre Anfang der 2000er kaum noch,  und ich fand es toll, dass Schirrmacher und Bahners mir sofort eine Kolumne gegeben haben, als ich das vorschlug.

Lettrétage: Neben Gabriele Tergit wird Paul Schlesinger an diesem Abend mit ausgewählten Texten zu Amtsgerichtsverfahren zu hören sein. „Der Mann, der schießt“ heißt einer davon. Ein Satz, der heraussticht, lautet: „Die Erkenntnis von der Nutzlosigkeit der Strafe stellte sich etwa zu derselben Zeit ein wie die andere Erkenntnis von der Unschuld des explodierenden Menschen [im Sinne eines Gewaltausbruchs].“ Das klingt nach deutlich mehr als nur einem Bericht über diesen oder jenen Fall vor einem Amtsgericht. Was kann man also von Schlesinger erwarten?

Raquel Erdtmann: Wie Tergit und Sling bin ich oft und fast lieber im Amtsgericht, wo „Alltägliches“, scheinbar Kleines verhandelt wird. Ich hatte dort einmal den Fall eines etwa 40jährigen Menschen, der mit bereits über zwanzig Verurteilungen, eigentlich immer das gleiche, kleine Diebstähle von seltsamen Sachen, in die Verhandlung kam, also fast sein gesamtes Erwachsenenleben in der JVA verbracht hatte. Sowohl Staatsanwältin als auch Amtsrichterin seufzten geradezu verzweifelt: „Was soll man denn mit Ihnen machen, außer Sie wieder in Haft zu stecken, auch wenn bei Ihnen der Sinn der Strafe ja nicht greift!“ Ein Professor für Strafrecht schickte mir ein paar Monate nach der Veröffentlichung der Geschichte in der F.A.S. seine Abhandlung über den Sinn der Strafhaft zu, in dem dieser Fall von ihm als Beispiel aufgegriffen wurde. Haft soll ja auch erziehen, bessern, nicht nur die Gesellschaft vor Tätern schützen, für eine wie auch immer geartete Gerechtigkeit sorgen. Nur – es gibt zwar sicher viele Menschen, die sagen: Nie wieder will ich ins Gefängnis! Zu besseren Menschen werden sie in der Haft sicher nicht. Im Amtsgericht begegnet man vielen Wiederholungstätern. Bei Schlesinger springt den Leser seine Skepsis gegenüber der Sinnhaftigkeit von Strafe geradezu an.

Nebenbei sei erwähnt, dass mich, die ich meistens im doch sehr zugewandten Frankfurter Amts- und Landgericht unterwegs bin, die oft sehr milden Urteile der Berliner Strafkammern der Weimarer Zeit beeindrucken. Es gibt damals erstmals eine Betrachtung der gesamten Lebensumstände, auch spielen psychiatrische Sachverständige nun eine Rolle vor Gericht, übrigens manchmal von heute aus betrachtet auf skurrile Art, aber auch ein Betrachten der Zeit, der rasenden Inflation, der scharfen politischen und gesellschaftlichen Klüfte, ein Einrechnen der schweren Kriegstraumata aus dem I. Weltkrieg, die das moralische Empfinden vieler zerstörten, findet sich in den Reportagen von Tergit und Sling – und eben in den Urteilen der Kammern. Typisch zeitgenössische, uns heute irritierenden Redewendungen und Begriffe wie „entartet“, „minderwertig“ sind im Kontext der Epoche zu lesen und nicht ins Heute, in ihrer heutigen Bedeutung zu übertragen. „Entartet“ hat bei beiden Autoren beispielsweise nichts mit „Rasse“, sondern dem alten „aus der Art“, einem „der Familie vom Wesen fremd sein“ zu tun. Beide, Tergit und Sling, waren Juden, übrigens.

Schlesinger mäandert in seinen Reportagen: Wahlweise schildert er den Gegenstand des Verfahrens, malt plastische Bildern der Protagonisten, der Szenerie, unterfüttert mit wörtlichen Zitaten. Manchmal dient ihm ein Prozess jedoch auch nur als Aufhänger zu allgemeinen Betrachtungen über Schuld und Strafe, wie in „Der Mensch, der schießt“.

Lettrétage: Und worin unterscheidet sich Gabriele Tergit davon? Was ist, wenn man das so sagen kann, ihr Markenzeichen?

Klaus Ungerer: Markenzeichen? Weiß ich nicht. Gabriele Tergit ist eine der vielen tollen Autorinnen dieser Zeit, und sie teilt mit ihnen einen anderen Blick als den heutigen. Sie ist nicht nur klug. Sie ist nicht nur politisch motiviert. Sondern sie hat Witz. Und sie schaut, wie Schlesinger, auch mit dem Herzen. Sie lächelt. Sie will die Menschen verstehen, statt dauernd alles schon zu wissen. Solche Texte findet man in deutschen Medien praktisch gar nicht mehr. 

Lettrétage: Die Texte des Abends haben fast 100 Jahre auf dem Buckel. Inwieweit lässt sich von ihnen heute noch etwas „lernen“? Nicht zuletzt auch für das eigene Schreiben?

Raquel Erdtmann: Schreiben kann man nicht lernen, glaube ich, man muss sich alles selbst beibringen. Lernen kann man nur durch gute Kritik, durch einen Lektor, ein kluges Redigat. Erfahren kann man in den Texten viel über das Berlin der Weimarer Republik, wie es tatsächlich schmeckte, roch, aussah, klang. Gerichtsberichte sind ja keine Erinnerungsstücke oder Erzählungen, sondern Zeitdokumente.

Gleichwohl sind sie auch zeitlos. Wir befinden uns ja vor Gericht: unter der äußeren Hülle der extrem unsicheren politischen und wirtschaftlichen Umstände, den Arbeitsbedingungen, einer Armut, wie wir sie in Deutschland heute nicht mehr kennen, erzählen die Reportagen natürlich im Kern von dem formidablen, uraltem Stoff, aus dem wir Menschen bestehen. Als ich mir Slings Texte jetzt zum ersten Mal richtig vornahm, habe ich viele Wiedergänger gefunden, Szenen, Geschichten, Typen, wie ich sie selbst im Gericht erlebt habe. Wobei mir als alter Berlinerin mit Berliner Vater natürlich noch janz anders dit Herz uffjegt bei: „Ick wollt’ mir ja jar nich vertragen, Herr Richter!“

Klaus Ungerer: Das Komische und etwas Traurige ist ja: Für mich fühlen sich Texte aus den 1920ern meistens wesentlich frischer, lebendiger und vielschichtiger an als alles, was man heute so um die Ohren gehauen bekommt. Die Zeitungen sterben, die Buchverlage haben sich durchökonomisiert und mainstreamisiert, fast alle Texte sind sehr berechenbar und etwas abgeschmackt. Man zielt auf billige Punkte im Diskurs.

Sicher folgten die Medien auch in den 1920ern den Regeln der Aufmerksamkeitsökonomie, das ist ja ihr Wesen. Aber mir scheint, dass man damals noch auf einen aufgeweckten Geist als Leserin zielen konnte, einen Kompagnon. Man konnte den Lesern zuzwinkern. Das finde ich heute kaum noch. Journalismus ist mehr wie so ein Proseminar, in dem alle sich über ihre diskurstauglichen Kenntnisse produzieren wollen – wodurch der Diskurs immer mehr zu seinem eigenen Klischee wird. Aber was soll’s, vermutlich bin ich auch nur ein Klischee mit meinem Genörgel.

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