Die Lettrétage im Juni

Nach mehreren Monaten Vorarbeit ist es am 11. Juni so weit: Dann steigt im Berliner Collegium Hungaricum die Premiere von The Poets‘ Sounds, unserem internationalen Projekt, das sich aus dem Grenzbereich zwischen Literatur und Musik entfaltet. Für die Erschließung dieses Niemandslands hat die Lettrétage in Zusammenarbeit mit dem Kölner SprachKunstTrio sprechbohrer sechs europäische Autorinnen und Autoren gewinnen können. Sie haben je ein sprachmusikalisches Werk für drei Sprechstimmen geschrieben, die durch die sprechbohrer musikalisch interpretiert werden. Wie diese Stücke unterschiedliche Phänomene fassen und zur Darstellung bringen, macht eine ihrer Qualitäten aus. Denn sie sind lebendige Literatur, die durch die Live-Interpretation auf der Bühne mehrere Sinne zugleich anspricht. Und das nicht nur in einer Sprache: Neben Deutsch und Englisch kommen z. B. auch Finnisch, Katalanisch und Ungarisch zum Einsatz. Der Eintritt ist frei! Wir bitten jedoch um die Buchung eines Tickets. Etwaige Berührungsängste nimmt vielleicht dieser Podcast mit dem Ensemble sprechbohrer. Wer nicht hören will, kann in diesem Fall aber auch sehen:

Für alle, die schon vorher Programm haben möchten, brechen Christine Ammann und Eva Profousová am 7. Juni eine Lanze für die Übersetzung von Sachbüchern, die oftmals zu Unrecht im Schatten der Romanübertragungen steht. Das Sachbuch – Mauerblümchen der Übersetzungskunst? lautet dementsprechend die rhetorische Frage dieses Abends, an dem Christine Ammann ihre Übertragungen fiktionaler und nicht fiktionaler Texte aus dem Italienischen, Französischen und Englischen in Auszügen präsentiert. Dazwischen wird es im Gespräch mit Eva Profousová um Bandwurmsätze und Naturschilderungen gehen, um die Abgründe von Recherche, Zitierwut und Wissenschaft – und um die Kunst, den richtigen Ton zu treffen.

Am 12. Juni treffen Die Kassandras vom Prenzlauer Berg zusammen, um ihre neuesten Texte vorzustellen, teilweise als Preview vor deren eigentlichen Premiere. Über Ruth Herzbergs DIE AKTUELLE SITUATION lässt sich bislang mit Sicherheit nur sagen, dass es sich um eine Fortsetzung ihres Debütromans handelt – was mit Blick auf dessen Resonanz mehr als vielversprechend ist. Von Franziska Hauser konnte man kürzlich in der Berliner Zeitung vom Abhandenkommen der stolzen, selbstbestimmten Frauen aus der DDR lesen, während sich in ihrem druckfrischen Roman KEINE VON IHNEN die Grafikerin Jef ein Aufenthaltsstipendium in der Villa der Familie Strand erschleicht. Dort steht sie nicht nur vor der Frage, ob die Kunst der anderen für sie zu hoch ist, sondern auch, was es mit der alten Frau auf sich hat, die der Familie offenbar bei einer im Dunklen liegenden Sache in die Quere kommt. Die dritte im Bunde, Jacinta Nandi, ist für DIE SCHLECHTESTE HAUSFRAU DER WELT bekannt, ihr lustiges, wütendes Buch über ihre eigene Inkompetenz als Hausfrau – und die Nutzlosigkeit der faulen Männer. Aber vielleicht liest sie auch aus ihrem im September erscheinenden Buch 50 WAYS TO LEAVE YOUR EHEMANN.

Eine der wenigen Gelegenheiten, die mexikanische Dichterin und Multimedia-Künstlerin Rocío Cerón zu erleben, besteht am 13. Juni, wenn sie zusammen mit Hakan Özkan ihre Gedichte NUDO VORTEX in einer Performance vorstellt. Rocío Cerón verbindet Poesie mit Klang­experimenten, Perfor­mance und Video. Ihre Galaxy Projects: tons of body, voice, sonorities and image wur­den international auf­ge­führt, u.a. im Instituto Cer­van­tes in Berlin, in London und Stock­holm, im Centre Pom­pi­dou in Paris und dem Southbank Centre in Lon­don. Timo Berger, der den Abend moderieren wird, schreibt in den Signaturen über ihre Werke: „[S]ie schillern extravagant, sind ehrgeizig, komplex und eigenwillig, und häufen doch unentwegt Brisanz an, ja, ich hatte sogar oft das Gefühl, dass sie möglichst nachhaltig Zeugnis ablegen, auf möglichst viel hinaus oder es zumindest andeuten wollen.“

Gedichte als Gesellschaftsseismografen zu betrachten, markiert am 14. Juni den Ausgangspunkt der zweiten Ausgabe von KOOKread: Erzählen, was auf uns zukam – Sounds und Texte aus zwei Jahren Corona. Welche Schwingungen und Erschütterungen in diesem Zeitraum zu registrieren waren und wie sie sich speziell in Gedichten bemerkbar machen, diskutiert Felix Schiller mit Uljana Wolf und Martin Piekar. Für Vibrationen vor Ort ist an diesem Abend die Elektro-Musikerin Girlwoman verantwortlich.

Denis Abrahams hat in der Lettrétage seit 2007 in unzähligen Lesungen auf unnachahmliche Art Texte zum Leuchten gebracht und sie mit seiner Stimme zum Leben erweckt. Im Januar 2020 ist er verstorben. Am 17. Juni heißt es nun einen Abend lang: Für Denis, um ihn und sein künstlerisches Schaffen zu feiern – mit Lesungsmitschnitten und Videos aus dem Archiv sowie anschließendem DJ-Set von seinem musikalischen Alter Ego DJ Einhitwunder.

Für den 23. Juni hat sich Soul and the City nicht gerade wenig vorgenommen: Speakeasy – The Event Of Prohibited Awesomeness befasst sich mit der Großartigkeit, dem Ruhm, den Geheimnissen, dem Reichtum und der Schönheit des menschlichen Ausdrucks und seiner Manifestationen. Mit interdisziplinären Darbietungen wird das Publikum auf eine Zeitreise von den Anfängen bis zur Gegenwart geschickt, begleitet von Live-Jazz. Nicht fehlen darf natürlich ein geheimer Zugangscode. Kleiderordnung: Art-Deco-Kleidung empfohlen.

Am 24. Juni verlagert sich das Geschehen dann in die Berliner Salonage, wo die zweite Ausgabe der Reihe FRAUENART – BACK, NOW & THEN ansteht: Es geht um Mütter & Kinder – Kinder & Mütter und deren sich verändernden Rollen, den Wandel des Mutterbildes und die kindliche Perspektive auf psychisch erkrankte Mütter. Auf Einladung von Gastgeberin Isobel Markus liest dazu Eva-Lena Loerzer Ausschnitte aus dem Material zu ihrem gerade im Entstehen begriffenen Debütroman, der im Falle von Mischa Mangel EIN SPALT LUFT heißt und von der Beziehung eines Sohnes zu seiner unter einer Psychose leidenden Mutter erzählt. Katrin Hoffert zeigt analoge Collagen aus der Werkgruppe RESTREALITÄT und Frank Schliedermann stellt die Short Story BO aus der Anthologie *INNEN – FRAUENGESCHICHTEN vor. Die Musik liegt in den Händen von Cassis B. Staudt.

Aus einem Salon wären auch FENSTERBLICKE möglich, die nicht nur in der Malerei, sondern auch in der Literatur einen besonderen Stellenwert haben, wie zuletzt wohl Anke Stelling demonstriert hat. Am 25. Juni geben Studierende des an der Alice Salomon Hochschule Berlin angesiedelten Masterstudiengangs Biografisches und Kreatives Schreiben Aus- und Einblicke: in Form von Texten und Fotos, die während des Lockdowns entstanden sind und im individuellen Blick aus dem Fenster vorm Schreibtisch ihren gemeinsamen Ursprung haben.

Einen gänzlich anderen Blickwinkel nimmt die Wissenschaftshistorikerin Anke te Heesen am 26. Juni ein, wenn sie über Intuition und Gefühl in der Wissenschaft spricht und dazu ein Beispiel aus dem Kalten Krieg heranzieht: eine von Thomas S. Kuhn entwickelte Methode, mit der er die Erinnerungen aller damals noch lebenden Koryphäen der Physik versammeln und festhalten wollte. Das Ziel: herauszufinden, wie revolutionäre Entdeckungen zustande kommen – und welche Rolle dabei Verzweiflung, Intuition und Gefühl spielen.

Und dann zum Abschluss am 30. Juni noch mal ein thematischer Hakenschlag mit Grew Out of the Forest, einem von Katinka Kraft und Anke Wisch gestalteten Abend, der, untermalt von Violine und Loop-Station, die autobiographische Erzählung mit der traditionellen verbindet, um herauszustellen, was politisch, persönlich und zeitlos ist. Diese Geschichten ziehen sich durch die kopfsteingepflasterten Straßen des Berlins der 80er Jahre bis zu den moosbewachsenen Ästen des pazifischen Nordwestens. Wie findet man Wurzeln, wenn man zwischen Kulturen, Eltern und Kontinenten hin- und hergerissen ist, während sich die höchsten Bäume der Welt gegenseitig unter der Erde festhalten?