Interview mit Uta von Arnim und Veronica Frenzel: über die Motivation, den Verstrickungen der eigenen Großeltern in den Nationalsozialismus nachzugehen

Uta von Arnim (c) privat; Veronica Frenzel (c) Antonio Perrone

Der März in der Lettrétage führt tief in deutsche Familiengeschichten hinein. Gleich zwei Autorinnen beschreiben in ihren Büchern die Nachforschungen über und ihren Umgang mit den Verstrickungen der Großeltern in den Nationalsozialismus. Am 12. März liest Veronica Frenzel aus IN EUREM SCHATTEN BEGINNT MEIN TAG und spricht mit dem Anti-Rassismus-Trainer Mutlu Ergün-Hamaz über den Prozess der Selbstreflexion, den das Wissen über ihre Familiengeschichte in ihr angestoßen hat. Uta von Arnim stellt am 30. März DAS INSTITUT IN RIGA vor und tauscht sich mit Karin Lindemann über die NS-Karriere ihres Großvaters aus, der während der deutschen Besatzung Lettlands Menschen für medizinische Zwecke missbrauchen ließ. Was die Autorinnen über unterschiedliche Motivationen hinweg verbindet, ist die Suche nach Antworten. In einem Interview erzählen beide von ihren Recherchen und der Reaktion ihrer Familien.

Lettrétage: Was war für Sie der Auslöser, die eigene Familiengeschichte zu hinterfragen und auszuleuchten?

Veronica Frenzel: Bei mir fing es mit einem Antirassismus-Training an. Als ich mich da vor vier Jahren zum ersten Mal bei rassistischen Gedanken ertappt habe, war mir klar, dass es eine Diskrepanz gibt zwischen meinem Selbstbild und der Wirklichkeit. Ich verstand mich zu dem Zeitpunkt nämlich schon lange als Antirassistin. Theoretisch hatte ich da auch schon verstanden, dass meine Perspektive als weiße Deutsche eingeschränkt ist. Praktisch hatte ich aber keine Ahnung, was das genau bedeuten sollte. Die Verbindung von den hässlichen Gedanken zu meinen Vorfahren konnte ich dann schnell ziehen. Obwohl ich das Tabu, das in meiner Familie um die NS-Zeit rankte, verinnerlicht hatte, wusste ich unter-un-bewusst nämlich sehr genau, dass da etwas im Argen lag.

Uta von Arnim: Ich war bei der Beerdigung meiner Großmutter. Schon auf der Hinfahrt erzählte eine Tante, dass mein Großvater während des Dritten Reiches eine leitende Funktion im Gesundheitswesen gehabt habe. Ich war sehr erstaunt, weil ich meinen Großvater immer für den Landarzt gehalten hatte, der er in der Nachkriegszeit ja auch war. Ich hatte nie Anlass gehabt, daran zu zweifeln. Ich war erschrocken, denn ich wusste von Menschenversuchen, Euthanasie, „Rassenhygiene“ im Dritten Reich. Ich hatte keine Ahnung, ob mein Großvater damit etwas zu tun gehabt hatte. Aber ich konnte es nicht ausschließen.

Im Anschluss an die Beerdigung saßen wir zusammen beim Kaffee in großer Verwandtschaftsrunde. Wie das eben so üblich ist. Ich habe dann gefragt, wo mein Großvater in der NS-Zeit tätig war und was er genau gemacht hat. Darauf kam als Antwort, dass er in Riga war. Und so eine Art Gesundheitsminister gewesen sei, aber nur stellvertretend. Auf weiteres Nachhaken von mir – ich wollte es schon genauer wissen – erntete ich eine Art unwilliges Schweigen. Und es war klar, dass ich jetzt besser nicht weiter frage – obwohl das keiner direkt gesagt hat.

Das war der Ausgangspunkt der Recherche. Ich wollte Gewissheit haben. Ich habe angefangen, einige Informationen zusammenzutragen. Ich wusste recht bald, dass an meiner Vermutung etwas „dran“ war. Mit der systematischen Archivrecherche und Interviews habe ich allerdings erst Jahre später begonnen.

Lettrétage: Wie war Ihr Verhältnis zu den Großeltern?

Veronica Frenzel: Meine Mutter war alleinerziehend, meine Oma hat oft auf uns aufgepasst. Ich habe sie sehr geliebt. Mein Opa war arbeitssüchtig, ich kenne ihn nur in seinem Taxi. Bei seltenen Familientreffen war er nicht sehr zugänglich, er ist gestorben, als ich 13 war. Im Rahmen der Auseinandersetzung habe ich allerdings auch gemerkt, dass die tatsächliche Anwesenheit gar nicht die größte Rolle spielt. Was in der Familie ungesagt bleibt, was nicht aufgearbeitet wird, wirkt wie toxischer Müll. Die Auseinandersetzung mit meinen Wurzeln ging außerdem irgendwann über die Betrachtung der Familie hinaus. Ich habe versucht, das gesamte weiße Erbe in mir anzuschauen. Das wird ja in der Schule, in den Medien, an der Uni, eigentlich überall weitergegeben.

Uta von Arnim: Mein Großvater starb, als ich 4 Jahre alt war. Ich hatte von ihm das Bild eines würdigen, weißhaarigen Herrn im Kopf. Ich weiß allerdings nicht, ob das wirklich eine reale Erinnerung ist oder von einem Foto. Ist aber vielleicht auch nicht wichtig
Später habe ich immer sein Sprechzimmer bewundert, das es im Haus meiner Großmutter noch gab. Da stand sein Schreibtisch und ein Blutdruckgerät. Die Tür war dick gepolstert, denn man sollte die Gespräche der Patienten nicht vom Flur aus hören können. Ich fand das als Kind eindrucksvoll. Meine Großmutter habe ich auf der einen Seite sehr geliebt, denn ich war oft in den Ferien bei ihr und sie sprach so ein herrlich melodisches Baltendeutsch und gab mir Bücher mit baltischen Geschichten oder las mir vor. Ich fand sie faszinierend, denn sie kam aus einer anderen Zeit und Welt. Andererseits war sie streng, es gab viele ungeschriebene Regeln und Ermahnungen.

Lettrétage: Wie hat Ihre Familie auf Ihre Nachforschungen reagiert?

Uta von Arnim: Während der Recherchezeit haben mir viele Familienmitglieder bereitwillig Auskunft gegeben über das Leben der Familie in Riga, die Umsiedlung 1939 nach Posen, das Leben auf dem Gutshof, die Flucht und die Persönlichkeit meines Großvaters. Ich habe viel erfahren über das Leben in der Nachkriegszeit, über Schwierigkeiten aber auch Freuden des Lebens als Flüchtlinge in größter Armut. Über die „Arbeit“ meines Großvaters in Riga wusste keiner etwas. Es hat aber auch niemand mich gefragt, was meine Recherche in den Archiven ergeben hätte.

Veronica Frenzel: Ich hatte Glück, meine Familie ist sehr offen für meine Nachforschungen gewesen. Es kam zu Konflikten, aber die konnten wir überwinden. Am Ende hat uns der Prozess näher gebracht. Wir kennen uns jetzt alle ein bisschen besser, vor allem unsere Schwächen. Das macht es ein bisschen leichter.

Lettrétage: Sehen Sie die Aufarbeitung der Vergangenheit Ihrer Familie für sich als abgeschlossen an?

Uta von Arnim: Das Wort „Aufarbeitung“ mag ich überhaupt nicht. Ich habe nichts „aufgearbeitet“ und folglich auch nichts „abgeschlossen“. Ich versuche das mal zu begründen, es ist mir selber nicht ganz so klar, warum ich dieses „Label“ nicht möchte. Ich glaube, weil es so nach Psychotherapie klingt. Es hört sich so an, als gebe es ein schwieriges Erlebnis in der Kindheit eines Menschen und dann ginge er zum Therapeuten und diese früheren Schwierigkeiten würden „aufgearbeitet“ und danach fühlt er sich besser. Seine Gedanken müssen nicht mehr um Verluste, Lieblosigkeit oder Gewalt kreisen, denn er hat mit dem Therapeuten alles besprochen.

Mir ging es bei dem Buch keinesfalls um „Aufarbeitung“ im Sinne einer „Katharsis“, also „Reinigung“ der Familie von Schuld oder Verstrickung in Verbrechen. Auch nicht um eine persönliche Entlastung. Mein Antrieb war, wissen zu wollen, auf welche Weise mein Großvater Teil des NS-Regimes gewesen ist. Was er gewusst hat, woran er beteiligt war. Diese Frage habe ich teilweise beantwortet, aber bestimmt nicht vollständig. An manchen Stellen könnte ich im Detail weiter recherchieren. Insofern ist die Recherche nicht abgeschlossen. Aber ich habe die Entscheidung getroffen, meine Recherche zu NS-Verbrechen zu beenden.

Veronica Frenzel: Ich habe herausgefunden, was ich wissen musste. Die Auseinandersetzung allerdings ist nie vorbei, glaube ich. Es geht immer wieder aufs Neue darum, das Diskriminierende, das Hierarchisierende in mir auszubremsen.