Textauszüge aus A.Olmos: Der Status

Morgen geht es weiter mit dem Entdeckungsparcours durch die junge spanische Prosa. Vorgestellt wird der vielfach ausgezeichnete Romancier Alberto Olmos (geboren 1975) mit seinem neuen Roman ‚El Estatus‘ (2009). Vorab können Sie hier schon einen Auszug aus der Übersetzung von Stefan Degenkolbe lesen. Mehr davon gibt’s morgen in der Lettrétage zu hören, gelesen von Schauspieler Denis Abrahams.

Am Abend hatte Doña Clara die Erzählung Der Horla zuende gelesen. Danach schlug sie das Buch zu, als wollte sie ein Ungeheuer einsperren und löschte das Licht. Sie drehte sich einige Male hin und her, bis sie eine bequeme Lage in der Mitte des Bettes gefunden hatte. Aber bevor sie auch nur die Augen geschlossen hatte, fing es wieder an. Es war ein knarrendes Geräusch und es kam aus dem Stockwerk über ihr. Doña Clara drehte sich noch einmal um und legte sich auf die linke Seite, aber das Geräusch hörte nicht auf, es schien sie regelrecht zu verfolgen. »Diese Nachbarn…«, murmelte sie und machte das Licht an. An das Kopfende des Bettes gelehnt, wartete sie einen Moment, während sie gleichmütig auf ihre Beine schaute, die sich unter der Decke abzeichneten. Da die Unruhe kein Ende nahm, schlug sie schließlich das Buch wieder auf und begann, eine neue Erzählung zu lesen. Die Vorstellungskraft verdrängte den Lärm aus ihrem Kopf, aber ihre Tochter im Nachbarzimmer hatte nicht anderes im Kopf als das. Nachdem sie aufgestanden war, und ihre spontanen Hirngespinste beiseite geschoben hatte, versuchte Clarita den Tumult zu analysieren. Es waren keine Schritte, auch keine Möbel, die über den Boden geschoben wurden, auch kein zerklirrendes Geschirr. Tatsächlich war es all das zusammen, und noch etwas anderes, etwas verzehrendes. Clarita ging durch ihr Zimmer, ohne den Blick von der Decke zu wenden. Sie war verschreckt. Sie wollte ihrer Mutter Bescheid sagen; aber wenn ihre Mutter nicht gekommen war, dann hieß das, dass es nicht von Bedeutung war. Und sie wollte nicht als Feigling dastehen. Aber sie wollte auch nicht sterben, wohlmöglich erdrückt vom herabstürzenden Dach. Ihrer Zweifel überdrüssig beschloss sie, ihr Zimmer zu verlassen. Sie öffnete die Tür mit äußerster Sorgfalt, so als würden alle anderen schlafen. Aber: Wie konnten sie denn schlafen? Hörten sie es etwa nicht? Sie setzte sich auf einen Sessel und schaute zur Decke. Sie stellte sich einen gewaltigen Wirbel vor, einen beängstigenden Strudel, gefährlich, rasend. Über die Gegenstände im Wohnzimmer hatte sich ein unheilvolles Beben ausgebreitet. Die Stühle, die Tische, die Bilder und die Lampen, die Schränke und die Uhren, die Teppiche und die Gardinen, schienen zu jammern, weil sie nicht fliehen konnten. Und das Klavier, das des Vaters, das verbotene, war zermürbt von seiner Unfähigkeit, den ungewohnten Gegner zu übertönen. Das Brummen schwoll zu chaotischen Formen an, als würde es sich im Zunehmen selbst zerstören. Für Augenblicke schien es so, als würde es die Decke durchbrechen und sie verschlingen. Sie drehte ihren Kopf und schielte zum Schlafzimmer ihrer Mutter, das jungfräulich verschlossen war. Und Patricia? So mutig, wie sie war, wieso war sie nicht gleich aufgestanden, um etwas zu unternehmen? Sie schaute zum anderen Ende des Flures, konnte aber nur die Wand der Küche und die Klinke der Badezimmertür erkennen. Als der Lärm eine halbe Stunde später aufhörte, hörte Clarita immer noch Geräusche, ihren Atem, den Brodem der Nacht, ein Auto. Sie bekam Lust, Klavier zu spielen oder zu pfeifen, um so an der musikalischen Gestaltung dieses Abends teilzuhaben. Sie ging auf die Toilette, das Urinieren kam ihr so anstößig vor, das sie sich weigerte, die Spülung zu ziehen. Als sie aus dem Bad kam, warf sie einen Blick in Patricias Schlafzimmer. Die Tür war angelehnt. Sofort dachte sie wieder an die Geräusche und an Entführungen und waghalsige Rettungsaktionen. War das Hausmädchen deshalb nicht ins Wohnzimmer gekommen? Sie drückte mit der Hand gegen die Tür und öffnete sie ein wenig mehr. Sie sah auf dem Tischchen das Marienbild, das von einem Lichtstrahl angefressen wurde, der sich über die Seite der Matratze zog, über Schultern stieg, Schenkel herablief, und auf den Fingern einer Hand zerschellte. Clarita kniff die Augen zusammen. Es war schwierig, dieses Gewirr aus Fleisch zu entschlüsseln, seine Verschränkungen, seine Nacktheit. So viele Hände, so viele Füße, so viel Ellbogen, die sich über andere Ellbogen legten, und haarige Bein, die entlang glatter Beine lagen, und waldige Gebiete und dunkle, faltige; und die Gesichter der beiden lagen auf dem Kissen und sahen wütend aus. Clarita schlug das Herz bis zum Hals, aber dennoch betrachtete sie diese Körper für einige Minuten. Dann ging sie, unruhig, verwirrt, wissend, und an der Tür klebte ihr phosphoreszierender Schweiß.

– Warum hast du mir das nicht gesagt?

– Was?

– Das sie Männer mitbringt. Was für eine Frechheit!

– Ich hätte nicht gewusst, wie ich das erklären soll. Jedenfalls nicht dir.

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