Textauszüge aus A. Colomer: Pantomime für eine tote Stadt

Hier präsentieren wir Auszüge aus der Übersetzung von Stefan Degenkolbe. Am 4. September um 19.30 Uhr können Sie diese und weitere Textstellen in der Lettrétage hören, gelesen von Schauspieler Denis Abrahams.

Der Thanatopraktiker Eduardo Arollo erzählt von seinem Berufsalltag in der Leichenhalle (Informationen zum Kontext):

Dieser Kerl heißt Andrés Jiménez und er beherrscht seinen Beruf so perfekt, dass er, ob aus schlichter Langeweile oder einfach aus Zynismus, jeden Todesfall in eine Operette mit Sarg verwandelt. Er ist vierzig Jahre alt, immer noch ledig, und da er seit kurzem zum Chef des Fuhrpark avancierte, kümmert er sich darum, die Leichen von zu Hause abzuholen, um die Aufnahme der Patienten, die im Krankenhaus zu kurz gekommen waren und um den Unterhalt der Limousinenflotte, die täglich zu den verschiedenen Friedhöfen der Stadt ausrückt. Auch wenn ich zugeben muss, dass dieser Mann seine Aufgaben äußerst effizient erfüllt, kann ich dennoch seinen Hang zu Frotzeleien nicht verschweigen, der mich aus der Haut fahren läßt. Ich kann seine Unfähigkeit, die Haltung zu bewahren, nicht ertragen, und auch nicht seine Angewohnheit, den Toten Spitznamen zu geben, die voller sexueller Anspielungen sind, und genauso wenig seine Fähigkeit, die fremde Trauer in den eigenen Spaß zu verwandeln. […]

Damals dachte ich, dass der Chef des Fuhrparks jeden Sinn für das Hier und Jetzt, überhaupt jede Orientierung für sein wirres Hirn verloren habe, aber heute weiß ich, dass seine Schrullen ihn vor dem Virus des Wahnsinns bewahrt haben. Es ist so, dass bei dieser Arbeit jeder versucht, irgendwie den Durchblick zu bewahren und zu vermeiden, dass ihm so etwas furchtbar scheußliches passiert wie Juanjo Miravete. Wie man mir erzählt hat, hat die Geschäftsführung der Leichenhalle diesen Mann ein paar Wochen, bevor ich hier angefangen habe, eingestellt und wieder  gekündigt. Es handelte sich um einen arroganten, gutaussehenden Mann von etwa dreißig Jahren, der sich damit brüstete, dass er jeglichen Skrupel verloren habe, als vor vielen Jahren ein Zug seine Schwester überrollt habe. Die beiden Kinder hatten gespielt, wer im letzten Moment vor dem Zug wegspringen würde und im letzten Moment war das Mädchen weg. Sie hatte Schwung genommen, machte einen Satz und klatschte gegen die Schnauze der Lokomotive. Sie verschwand dort vorne, und weil der Lokführer das Unglück nicht bemerkte, wurde ihr Körper über einige Kilometer mitgeschleift. Der Lokführer setzte die Fahrt fort, ohne den Jungen zu bemerken, der am Rand der Gleise und vielleicht auch des Wahnsinns stand und ihn entsetzt anstarrte, und erhielt erst zwei Stunden und sieben Dörfer später die Anweisung anzuhalten. Als er die Maschine endlich stoppte und sich vergewisserte, dass kein Mädchen die Front des Fahrzeugs schmückte, kontrollierte er Schwelle für Schwelle und Schotterbett für Schotterbett den langen Weg, den er zurückgelegt hatte. Die Suche war fruchtbar, aber nicht befriedigend. Denn die fleischige Masse, die er fand, sah nicht mehr aus wie ein kleines Mädchen, sondern eher wie eine Art Eintopf, in dem man nur ein grünes Haarband erkennen konnte, das an einem Signalmast hängen geblieben war, blutbespritzt, mit einem Büschel Haare. In der Folge dieses schockierenden Ereignisses  wurde der jugendliche Miravete in eine psychiatrische Klinik eingewiesen, und nach sieben Monaten und vielmehr Tabletten, wurde er seiner Familie übergeben, mit einer Seele, deren Fröhlichkeit so aufgesetzt wie pharmakologisch bedingt war. Viele Jahre später, bei dem Einstellungsgespräch mit Herrn Gómez, hielt sich dieser Kerl zugute, dass er durch den Verlust seiner Schwester zu einer beneidenswerten seelischen Ganzheitlichkeit gefunden habe, und weil er das Wort Ganzheitlichkeit so gekonnt gebrauchte, bekam er die Stelle, die ich einige Zeit später übernehmen würde. Niemand kam auf den Gedanken, dass ein Mann mit einer derartigen Geschichte im Rücken das Ticket zur Ganzheitlichkeit vielleicht mit Hin- und Rückfahrt gebucht haben könnte, und so schickten sie ihn nach Frankreich, damit er ein richtiger Thanatopraktiker würde und nachdem er zwei Wochen in meiner Stadt praktiziert hatte, fanden sie ihn, wie er mit den Toten der Leichenhalle Whiskey trank. Am vorhergehenden Abend hatte der verrückte Miravete, in einem Anfall von Verblödung, David Guzmán gefesselt, die Verstorbenen in die Kantine geschleift, ihnen die zugenähten Münder und die Augen geöffnet und mit ihnen auf die Gesundheit der über die Gleise des Landes zerstreuten Mädchen getrunken. Als Herr Gómez am nächsten Morgen diese Pantomime aus, auf ihre eigenen Schultern gesackten Köpfen entdeckte, und besonders, als er entdeckte, dass der Bekloppte die Arme der Leichen mit Schnüren bewegte, als handle es sich um die Aufführung in einem Marionettentheater, fiel er in Ohnmacht und es war Conqueiro, der einige Minuten später die Polizei anrufen musste. Heute spielt der Mann, der seine Ganzheitlichkeit verloren, wiedergefunden und wieder verloren hatte, mit einer kleinen Eisenbahn in einer Psychiatrie in der Vorstadt. Die Kollegen, die ihn dort besucht haben, erzählen, dass ein großes Gleis durch sein ganzes Zimmer gelegt ist, dass er eine Plastikpuppe auf das Gleis gebunden hat, und dass der Thanatopraktiker, der jetzt zum Lokführer geworden ist, wenn die Waggons auf dem Teppichboden entgleisen, erklärt, dass darin achtzig, hundert oder hundertfünfzig Reisende gesessen hätten. Dann streichelt er dem Püppchen den Kopf, sagt »Bravo, Liebling!« und setzt eine neue Lokomotive auf die Schienen.

Deswegen, also, um nicht in Gefahr zu laufen, dass zu bekommen, was meine Kollegen das »Miravete-Syndrom« getauft haben, werfen die Angestellten der Leichenhalle mit Witzen über die Verstorbenen um sich, ertränken die Erinnerungen an das, was sie am Tag gesehen haben, in Bier, oder schreiben, wie zum Beispiel Jiménez, ungeheuerliche Sachen auf die Umschläge der Totenakten. Neben seinem ehrenrührigen Verhalten gegenüber den Verstorbenen, schreibt er Ausdrücke wie »Schinken: Pata Negra« auf die Unterlagen von so schönen Toten wie Silvia Viladavall; »Speckschwarte« auf die von so rundlichen Figur wie jene Frau von hundertfünfunddreißig Kilo, die mit Faustschlägen in den Sarg gestopft wurde; »Nette Omi« auf die von Greisinnen, mit einem so sanftmütigen Gesicht, wie jener, der er, um sich die Zeit zu vertreiben, eine Clownsnase aufgesetzt hatte, und andere sprachliche Entgleisungen, deren einziger Zweck darin bestand, etwas in Verruf zu bringen, dass ihm wohl in der Tiefe einfach zuviel Erfurcht einflösste.

»Du solltest nicht solche Dummheiten auf die Unterlagen schreiben«, ermahnte ich ihn, während ich das Blatt herausriss, auf dem »Schinken: Pata Negra« zu lesen war.

»Das hab’ ich nur geschrieben, weil sie so ein hübsches Mädchen war.«

»Dieses Mädchen ist eine Leiche.«

»Du bist schon wieder so förmlich, Arollo«

»Du weißt, dass ich diese Art von Unfug hasse.«

»Scheiße, ist doch bloß ein Spaß!«

»Ich kann es trotzdem nicht leiden. Stell dir vor, dein Geschreibsel wird übersehen und die Angehörigen dieser Verstorbenen entdecken, dass jemand Eseleien auf den Totenschein ihrer Tochter geschrieben hat.«

»Welche Angehörigen? Diese Tote ist doch einsamer als ein verlorengegangener Kinderschuh hier angekommen.«

»Das ist doch egal. Erinner’ dich daran, was neulich mit der Alten passiert war.

»Welche Alte?«

»Die, die von ihrem Ehemann eingekleidet wurde. Wenn ich es nicht geschafft hätte, die Unterlagen zu verstecken, dann hätte der Mann deinen Blödsinn gelesen. Und dann? Was, hee, was dann?!«

»Ich weiß gar nicht mehr, was ich da geschrieben habe.«

»Du hast geschrieben, dass man das Hörgerät der Alten anlassen solle, damit sie das Knacken hören könne, wenn sie die Würmer im Grab anknabbern.«

»He, he.«

»Ihr Mann wollte schon die Mappe nehmen, bevor ich deinen Zettel rausnehmen konnte.«

»Hättest du den Alten eben nicht in deinen Keller lassen sollen.«

»Der Mann wollte die Verstorbene eigenhändig ankleiden, und du weißt, dass wir das niemals verbieten.«

Ich drehte mich einen Moment weg, und als ich Jiménez wieder ansah, erwischte ich ihn, wie er mir den Mittelfinger seiner rechten Hand entgegen streckte.

[Alle Rechte dieser Übersetzung: Stefan Degenkolbe.]

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