Buchkritik: Álvaro Colomer

Um dieses Buch geht es am 4. September… – zur Einstimmung hier vorab eine Buchkritik:

Álvaro Colomer: Mimodrama de una ciudad muerta

Eine zerbrochene Totenmaske ruht zwischen den Säulen einer klassizistischen Architektur. Ihre makellosen Gesichtszüge erinnern an die Masken der Mimen in der Commedia dell‘ Arte, an die ästhetische Perfektion einer Inszenierung, die weiß, was sie ihrem Zuschauer an Kunstfertigkeit und Unterhaltung schuldet. Und doch wirkt die Regungslosigkeit dieser effektvollen Komposition unheimlich und läßt das Abgründige erahnen. Selten hat ein Buchcover so gekonnt die Facetten einer Romanhandlung mit einem einzigen Bild aufgefächert. Alvaro Colomers Roman Mimodrama de una ciudad muerta hat in der Tat, wie schon der Titel ankündigt, dramatische Züge: Als ein Zwitter von Tragödie und Komödie weiß der Roman seinen Leser mit skurrilen Mimen zu unterhalten, läßt seinen grotesken Humor aber letztlich nur als Kehrseite einer Gesellschaftssatire aufscheinen, deren bittere und ernste Kritik wohl anders kaum zu ertragen wäre.

Eduardo Arrollo, der Protagonist, ist Thanatopraktiker. Die Leichenhalle ist sein Arbeitsplatz. Kürzlich Verstorbene werden von ihm kosmetisch und hygienisch soweit hergerichtet, Spuren von Krankheit oder Gewalt soweit entfernt, daß den Angehörigen beim letzten Abschied ein ästhetisches Bild in Erinnerung bleibt. Damit ist Eduardo Arrollo ein Zahnrad im Getriebe der Bestattungsindustrie, die Leichenhalle ein Betrieb in der Kette der Totenversorgung zwischen Krankenhaus und Friedhof. Was in der öffentlichen Wahrnehmung als Ort persönlicher Trauer und Schicksalserfahrung erscheint, ist im beruflichen Alltag Eduardo Arrollos ein zielstrebig auf Effizienz- und Gewinnsteigerung geführtes Unternehmen mit klarer Hierarchie und administrativen Strukturen, das aus dem Tod als unvermeidlicher Kehrseite des Lebens wirtschaftlichen Profit zieht.

Bei der Lektüre stechen dem Leser genaue Beobachtungen und detaillierte Rechercheergebnisse ins Auge, sei es in der minutiösen Beschreibung des biochemischen Verfallsprozesses oder den Ratschlägen aus dem „Handbuch zur Psychologie des Trauernden“. Álvaro Colomer, 1973 in Barcelona geboren, verdient sich als Journalist seinen Lebensunterhalt. Für seine Reportage zum heutigen Leben in Tschernobyl (u.a. erschienen in seinem Band gesammelter Reportagen Guardianes de la memoria. Recorriendo las cicatrices de la Vieja Europa, dt. in etwa Wächter der Erinnerung. Die Wunden des Alten Europa, 2008) ist er mit dem International Award for Excellence in Journalism 2007 ausgezeichnet worden. Mimodrama de una ciudad muerta ist der zweite Teil seiner Romantrilogie über den Umgang mit dem Tod in der urbanen Gesellschaft. Hier zeigt sich Colomer aber nicht nur als akribisch recherchierender Journalist, sondern auch als ein Spielmann, der mit barocker Lust das Grauenvolle bis hin zur Karikatur überzeichnet. Daß eine junge, außerordentlich schöne Frau unter falschem Namen beerdigt wird, ohne daß weder Verwaltung noch Gerichtsmedizin die Lügengeschichte entlarven, die ihnen die einzige Hinterbliebene auftischt, läßt die unfreiwillige kriminalistische Suche Eduardo Arrollos zum makaberen und grotesken Schaustück werden. In bester Tradition spanischer Satire à la Quevedo zeichnet Colomer ein Sittengemälde des städtischen Bestattungswesens, dessen nur scheinbar lückenlos kontrollierte Abläufe die totale Gleichgültigkeit der Gesellschaft gegenüber ihren Verstorbenen kaschieren.

Was sich in letzter Konsequenz als moralischer Apell gegen die Verdrängung der Verstorbenen aus der Alltagswirklichkeit richtet, kleidet sich auf der Bühne des Geschehens in bis zur Rührung pathetische, absurde oder auch zynische Szenen. Ausgangspunkt sind Eduardo Arrollos Halluzinationen, die die Toten zu neuem Leben erwecken und an der Romanhandlung ebenso aktiv teilnehmen lassen wie die häufig nicht minder skurrilen Lebenden. Da wird Arrollo von einer klapprigen Leiche gefragt, wann denn der nächste Zug in Richtung Fegefeuer abfahre, an anderer Stelle stürzt sich eine ganze Horde von Leichen wild entschlossen aus dem Fenster, um Selbstmord zu begehen. Und auch die Angestellten der Leichenhalle suchen bei der täglichen Konfrontation mit dem Tod ihren Schutz in groteskem Humor. Arrollos gespenstische Halluzinationen offenbaren sich dabei zunehmend als Verdrängung von Reue- und Schuldgefühlen: Zehn Jahre zuvor hatte er seine schwangere Freundin umgebracht, ist von der heimatlichen Insel in die Stadt geflohen, um sich eine neue Existenz aufzubauen. Obwohl er seine polizeiliche Festnahme und Bestrafung mehrfach provozierte, war das staatliche Kontroll- und Sicherheitssystem nicht imstande, ihn als Mörder zu identifizieren. Erst zehn Jahre danach, in einer ebenso unheimlichen wie zärtlichen Schlußszene, zeichnet sich schließlich der Ausbruch ab, – als er langsam Schuldgefühle und Reue entwickelt, und diese Gefühle ihn allmählich von seinen Halluzinationen erlösen, von einem Leben unter lebendigen Toten.

Katharina Deloglu

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