Buchkritik: Blanca Riestra

Um Blanca Riestras Roman ‚Todo lleva su tiempo‘ geht es am 2. Oktober. Dazu gibt’s hier vorab schon mal eine Buchkritik:

„Ich hatte mich in ein unsichtbares Wesen verwandelt. Nichts gab es mehr, an dem ich mich hätte festhalten können; mein Körper existierte nicht mehr: er hatte diese undefinierte Farbe von Schmutz angenommen.“ – Der junge Bohémien und Dichter José Manuel Vilano blickt auf den selbsterwählten sozialen Abstieg zurück, auf seine Rimbaudsche Fahrt durch ein Madrid der Bettler und Krüppel. Völlig unspektakulär kleiden sich seine existentiellen Erfahrungen in präzise Beobachtungen, ob Angst oder Demütigung, ob die Zerrissenheit der Haßliebe zu seiner Kindheitsfreundin Toni oder das besessene Verlangen nach unerreichbaren Zielen. Während das Geständnis des zweifachen Mörders vor dem Richter die Rahmenhandlung des Romans bildet, dreht sich im Inneren der kurzen, schlagartig aufeinander folgenden Kapitel das Hamsterrad seiner vergeblichen und naiven Suche nach Reinheit und Vollkommenheit.

Das äußere Geständnis des Verbrechers begleitet ein leises Eingeständnis des eigenen Scheiterns am Leben, der einerseits aktiven und bewußten, andererseits passiven und erlittenen Zerstörung der Möglichkeiten des eigenen Lebensglücks. Es riecht nach Rimbaud. Und es sieht nach Baudelaire aus, wenn der Dichter die Semiotik der Stadt entschlüsselt, seine Faszination am Bösen und Abgründigen, am Ekelerregenden und Abstoßenden zelebriert – als literarisches Biotop einer im Dreck gereinigten Wahrnehmung. Das kann gründlich in die Hose gehen. Blanca Riestra hat das Gegenteil geschafft. Sie buchstabiert ein Plädoyer für die Langsamkeit der Wahrnehmung, schafft sich aus dem vorgefundenen Material ein eigenes Alphabet. Langsam und gründlich zoomt sie aufs Detail, reinigt ihre Sprache mit einer so minimalistischen Genauigkeit, daß das vermeintlich Bekannte in dieser poetischen Textur unversehens fremd wird, daß Gut und Böse mitsamt der Sicherheit moralischer Urteile ihr Fundament verlieren. Mord wird zum passiven Tun, Schuld zu einem übergeworfenen Mantel, der zu groß und zu unförmig ist, um getragen zu werden.

® Katharina Deloglu

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