Zitat der Woche

Nach der Begegnung mit dem Friedhofsverwalter von Bad Oldesloe besuchte ich für den Rest des Jahres keinen Friedhof mehr, erst im Januar kamen die Energieschübe zurück, und ich verabredete mich für die Zeit der südosteuropäischen Schneestürme mit Marius, der schon mit mir in Hamburg-Nienstedten an den Gräbern von Fichte und Jahnn gestanden hatte, und mit Pascal – einem der wichtigsten Beobachter unseres Landes – in Bukarest. Von dort aus wollten wir uns endlich auf die Spuren des Grabs von Ovid begeben.

Wir fuhren mit dem Zug aus Bukarest kommend über die verschneite Baragan Steppe Richtung Konstanza. Was hier vor sich gegangen war, erschien uns schleierhaft: noch nie hatten wir von Mircea dem Älteren gehört, wussten nichts über die Prinzessin Chiajna und Peter mit dem Ohrring, und hatten auch noch nie etwas von Mihnea dem Schlechten und Constantin Brancoveanu gelesen. Und doch hatten alle hier gewütet, sich gegenseitig in Stücke gehauen im Kampf um die religiöse Vorherrschaft in Europa. Wir stellten uns die Opfer vor, gepfählt und zerstampft, die rote Sonne, typisch, wie sie aufging nach verlustreichen Schlachten in der Walachei, und wir dachten an die Elefanten in den transsilvanischen Hügeln von Schäßburg.


Leonhard Hieronymi: In zwangloser Gesellschaft, Hoffmann & Campe, 2020.


Mehr von Leonhard Hieronymi und anderen jungen Gegenwartsliterat*innen am 7. November bei metamorphosen 30 „Strafen“.