PoetryAudioLab – der Rückblick

An zwei Wochenenden wurde in diesem Sommer der Berliner Stadtraum in ein poetisches Klanglabor verwandelt. Autor*innen bespielten im Rahmen des PoetryAudioLabs ausgewählte Orte mit Sound-Installationen und poetischen Interventionen. Wir blicken zurück auf ein besonderes Projekt und danken Antonia Lochmann, die ihre Eindrücke für uns aufgeschrieben hat.


„Das Wort ist der rote Faden zwischen der äußeren und der inneren Welt. Der Atem ist der rote Faden zwischen der äußeren und der inneren Welt. Die Bewegung ist der rote Faden zwischen der äußeren und der inneren Welt.

Sandra Gugićs Installation ist eine poetische Meditationsübung, der man über Kopfhörer lauscht. Man lässt die Umgebung, seinen Körper und seine Gefühle auf sich wirken und wird aufgefordert seine Atmung ganz bewusst einzusetzen. Der Wechsel zwischen der inneren und der äußeren Welt, wie die Autorin es nennt, soll bewusst kontrolliert und wahrgenommen werden. Eine Gedankenübung während eines Spaziergangs durch die Klosterruine in Berlin-Mitte.

Sandra Gugic ist eine von sechs Dichter*innen, die im Sommer 2019 verschiedene Orte Berlins in ein Labor aus Poesie, Sounds und Audioinstallationen verwandelten. Idee des von der Lettrétage organisierten und veranstalteten Projektes war es, den Stadtraum Berlin als Ausgangspunkt für ein Experiment zu nutzen: Wie konvergieren Straßen, Klosterruine und Flohmärkte mit Wort, Vers und Soundinstallation?

Die Klosterruine liegt hinter einer Reihe von Bäumen, die den Straßenlärm der B1 und das laute Treiben vom Alexanderplatz abschirmen. Vom pulsierenden Zentrum Berlins, wo sich die Touristen zwischen Konsumtempeln, Rathaus und Fernsehturm gegenseitig auf die Füße treten, läuft man weniger als fünf Minuten und steht zwischen den gepflegten Mauerüberresten der ehemaligen Franziskaner Klosterkirche und kann in den blauen Himmel schauen.

Außerhalb der Ruine findet sich die nächste Installation zwischen drei Findlingen: Stimmen aus Lautsprechern vermischen sich zu einem Klanggewirr. Zwischen den Findlingen liegen Teppiche in Form von seltsamen Fabelwesen. Wenn man sich auf einen der Teppiche setzt, um Sonja vom Brockes Klangkunst zu lauschen, lässt man sich auf den Rücken dieser Kreaturen nieder. Sie liest mehrstimmig aus ihrem 2018 erschienen Band „Düngerkind“. Der Text zählt viele Missionen unseres Alltags auf – trivial und bedeutungsvoll zugleich: Missionen an der Ruine.

Die Aufnahme des „Missionen-Textes“ dringt versetzt und in Dauerschleife aus verschiedenen Winkeln ans Ohr. Je nachdem wo man steht, läuft oder sitzt, ist eine andere Stimme im Vordergrund. Die anderen Stimmen und Missionen vermischen sich im Hintergrund.
Ein Schritt oder eine Kopfbewegung verändern das Klangbild. Ein anderer Textabschnitt, eine andere Mission rückt in den Vordergrund. Außerdem hört man die Stimmen der umstehenden Passanten und ein beständiges Rauschen von der Straße.
Die Überlagerung der Stimmen und Geräusche mit dem vervielfältigten Text erzeugen einen Sog. Man weiß nicht mehr, wo der Text aufhört und endet – Anfang und Ende wechseln sich immer wieder ab und werden in der Endlosschleife unerkennbar. Wo fängt welche Mission an und wo hört welche auf? Und was ist mit unseren Missionen, die wir jeden Tag verfolgen?

Wer von den Findlingen zurück in die Ruine spaziert, begegnet dort der nächsten Installation: In der Mitte des ehemaligen Kirchenschiffs der Klosterkirche steht ein großes Karussell aus Holz. Das Karussell dreht sich langsam. Einige Besucher*innen sitzen auf den pyramidenförmig angeordneten Holzbänken des Karussells.

Auf den Sitzbänken liegt ein länglicher Pappkarton, aus dem eine Stimme zu hören ist. Die Stimme dringt aus den verschiedenen Öffnungen des Pappkartons. In unregelmäßigen Abständen hört man immer wieder das gleiche Wort: „baut“. Nach einer halben Stunde kommt das nächste Wort: „was“. Für seine poetische Audio-Installation wählte Norbert Lange eine Perspektive auf die Poesie, die sich mit den einzelnen Bausteinen auseinandersetzt: den Wörtern. Die in der Klosterruine laufende Ausstellung wird zur Grundlage einer experimentellen Untersuchung einer Gedichtzeile von Andreas Gryphius:„Was dieser heute baut, reißt jener morgen ein.“

Diese Zeile hat Lange in seine Einzelteile zerlegt und in der Klosterruine arrangiert. Jedes Wort hat er einzeln aufgenommen und dann von je einem Lautsprecher abspielen lassen. Aus den einzelnen Aufnahmen der Wörter wird der Satz zusammengefügt.

In einer neuen zufälligen Reihenfolge erscheinen die Wörter und der Satz zunächst bedeutungslos. Doch die Eindringlichkeit jedes einzelnen Wortes lässt das Publikum hinterfragen, wo die Grenzen von Texten und Literatur liegen? Welche Bedeutung ergibt sich aus dem Zusammenhang zwischen den Wörtern? Und was passiert, wenn man diesen Zusammenhang verzerrt und unterbindet und neue Zusammenhänge und Kontexte herstellt?

Die drei Installationen bildeten gemeinsam das erste Wochenende des PoetryAudioLabs.

Die Interventionen im öffentlichen Raum sind für beide Parteien – Künstler*innen und Publikum – ungewohnt. Die Literatur begibt sich in eine Situation, in der Stadtlärm, Unaufmerksamkeit, Ablenkungen und die Erwartungen der Passanten die Rezeption beeinflussen und poetisches Sprechen auf eine ganz andere Art und Weise stattfinden lassen.

Mit dieser Idee im Hinterkopf nahmen sechs Lyriker*innen – Sandra Gugić, Sonja vom Brocke, Norbert Lange, Mara Genschel, Konstantin Ames und Tom Bresemann – im Juli 2019 an einem Workshop zum in der Lettrétage teil, um Poesie und Sound Studies zusammenzubringen. Dabei ging es auch um auditive Formate, Grundlagen der Tontechnik und die generelle Frage nach der Wirkung von Poesie im Stadtraum. Der Workshop wurde von Sonja Heyer geleitet. Seit einigen Jahren experimentiert die Künstlerin mit Klang- und Soundinstallationen – unter anderem im Rahmen des Projekts UMBRELLA, in dessen Rahmen poetische Sound-Walks mit Regenschirmen stattfanden.

Gut ein Dutzend Orte wurde besucht, am Ende einigten sich zwei Gruppen auf die Klosterruine beziehungsweise den Marheineke-Flohmarkt als Orte für die Installationen und Interventionen.

An einem Ende des Platzes befindet sich die Marheineke-Markthalle: hier reihen sich Marktstände und Restaurants aneinander. Vor den Eingängen der Markthalle stehen unter Schirmen Tische und Stühle. An diesem sonnigen Samstag sind alle Tische besetzt. Die Leute unterhalten sich laut, um den Lärm der angrenzenden Straßen zu übertönen, Kinder rennen über den Platz und schreien sich gegenseitig Dinge zu, Straßenmusiker*innen spielen ihre Lieder und Musik aus den Radios der vorbeifahrenden Autos erfüllt die städtische Spätsommerluft.

Der zunächst leere Stand des PoetryAudioLabs mit einer weißen Tischdecke verursacht Verwirrung. Es ist noch vor 10 Uhr, dem offiziellen Start des Marktes, und die Schnäppchenjäger*innen sind bereits da, um die besten Angebote ausfindig zu machen. Durchsichtige Regenschirme liegen auf der Tischdecke, kleine Lautsprecher sind an ihnen befestigt. Besucher*innen können sie sich für Sound-Walks über den Platz ausleihen und hören sich die Audioformate dann beim Spazieren an. Unter den Regenschirmen werden die Aufnahmen von Poesie und Geräuschen wie unter einer Kuppel eingefangen. Die Geräusche der Straße und des Marktes sind trotzdem noch deutlich hörbar. Durch die durchsichtigen Schirme kann man den Himmel sehen. Trotzdem man alles sehen und hören kann, fühlt man sich von der „Außenwelt“ abgeschnitten.

Einige Standbesitzer*innen drehen sich verwundert um, wenn Leute bei Sonnenschein mit dem Schirm an ihnen vorbeilaufen.
„Regnet es?“
„Haben sie da ein Radio in ihrem Schirm?“
„Packen sie den Schirm mal lieber weg, sonst fängt es noch an zu regnen…“

Zuerst übernimmt Konstantin Ames den Stand mit seinen Poesie-Audio-Installationen.

Ames präsentiert drei verschiedene Sound-Poesie-Projekte: In „Magenwinter für Marheineke“ zum Beispiel setzt er sich mit der Geschichte und Gegenwart des Marheinekeplatzes auseinander.
Man hört Interviews mit verschiedenen Personen, die von ihren Erinnerungen und Eindrücken vom Marheinekeplatz berichten. Man hört die echten und replizierten Geräusche des Flohmarktes: Stimmengewusel, Musik auf der Straße und Straßenlärm. Außerdem hört man artifizielle Geräusche von technischen Geräten – das Klappern eines Druckers. Ames liest dazu Gedichtfragmente. Seine Stimme scheint mal nah, mal fern zu sein. Die Geräusche, Gedicht- und Textbausteine, Interviewabschnitte sind in einer Soundcollage zusammengefügt.

In „Leistungswasserlyrics“ hört man das Rauschen von Wasser, Wind und dazu unverständliche Stimmen im Hintergrund. Gemischt wird das Ganze mit verschiedenen Gedichten gelesen von Konstantin Ames selbst. Irgendwann verschwindet das organische Rauschen des Wassers und ein unangenehmes künstliches Fiepen und Rattern erfüllt den Raum: Der Klang einer Waschmaschine. Nach einer kurzen Pause erklingt Ames Stimme wieder – zunächst ruhig, dann verstellt und piepsig, wie eine Micky Mouse, zwischendurch auffordend und schreiend.

„Sehstuck“ beginnt mit Wasserrauschen und einem hohen artifiziellen Ton. Danach hört man den Klang eines Filzstifts, der etwas auf Papier schreibt. Quietschen und Streichen auf Papier. Überlagert wird das Ganze mit verschiedenen Aufnahmen von Gedichten von Ames. Textbausteine, Namen und Kunstworte.

Am Samstagnachmittag übernimmt Tom Bresemann den Stand. Die Aufnahme, die hier zu hören ist, besteht aus verschiedenen Stimmen, Geräuschen und Texten. Auch dieses Werk kann man ebenfalls entweder mit Kopfhörern oder mit einem der „Sound-Regenschirme“ hören. Im Hintergrund der Stimmen hört man das Treiben des Flohmarktes auf dem Marheinekeplatz: Stimmengewirr, Musik, Wasserrauschen und Geschrei von Kindern – in der Aufnahme und in der Realität.

Die Geräusche werden von verschiedenen Stimmen überlagert.
Eine artifizielle Frauenstimme ist zunächst nur im Hintergrund zu vernehmen. Bresemann selbst liest einen Text gegen die Geräuschkulisse des Flohmarktes.

Man hört ein Knacken, das immer lauter wird. Es werden immer mehr Stimmen und Geräusche. Der Lärm schwillt bis zum Klimax hin an.
Alle Stimmen werden schließlich vom Lärm geschluckt. Ein dramatisches Crescendo mit einem künstlichen Rauschen. Alle Geräusche und Klänge klingen rasch ab. Danach hört man nur noch die Stimmen und Geräusche des Flohmarktes.

Eine künstliche Stimme beginnt zu sprechen und wird bald überlagert von einer weiteren künstlichen weiblichen Stimme, die zeitgleich einen anderen Text vorträgt. Man hört Leute singen, das Klappern von Geld. Aufnahmen mit viel Echo.

Beim Hören der Aufnahme mit einer Box und einem Regenschirm beginnt man, je länger man die Aufnahme hört, sich immer mehr von der „Realität“ zu entfernen und sie aus einer anderen Perspektive zu hören. Je länger man zuhört, desto mehr denkt man über die vielen Quellen von Sprache um sich herum nach. Die artifiziellen und echten Stimmen aus der Aufnahme werden mit den Stimmen der Menschen auf dem Marheinekeplatz vermischt – doch was sind die Unterschiede zwischen diesen Worten und Stimmen?

„Von Jeglichem Wort“ ist ein transmediales Poesieprojekt, das sich mit unserer Sprache beschäftigt und damit, wie sie eine Haltung und ein Weltbild vermittelt.

„Woher kommt das, was wir sagen, wohin sagen wir es?“
Die gelesenen Texte aus der Aufnahme stammen aus verschiedenen Quellen aus den letzten 500 Jahren Aufzeichnung der deutschen Sprache. Das sind zum Beispiel die Bibelübersetzung, Reden oder Korrespondenzen von bekannten Persönlichkeiten der Öffentlichkeit oder Äußerungen und Aussagen von Privatpersonen.

Das Wochenende beschließt Mara Genschel: Auf dem Tisch ausgebreitet liegen Flyer, Fotos, Postkarten und Prospekte. Viele davon sind mit Kommentaren und Anmerkungen versehen. CDs, Notenhefte und Visitenkarten liegen aus. Außerdem sind kleine in Glas und Metall gefasste Bild- und Papierschnipsel ausgelegt. Auf Nachfragen der Passanten und anderen Standbestitzer*innen sind die ausgestellten Artefakte mit Preisschildern markiert worden: ein 3 x 5 cm großes Bild kosten ca. 53 €. Doch eigentlich ist alles auf dem Tisch unverkäuflich und Teil der Installation.

Bevor man den Flohmarktstand überhaupt sieht, hört man bereits einige Meter vorher die Aufnahmen der Musik und einer von einer Erkältung beeinträchtigten Stimme. Es ist schwer, zu verstehen, was die Stimme vorliest – wegen der Geräuschkulisse des Flohmarktes und auch weil die immer wieder vom Husten unterbrochene Leserin es für das Publikum schwer macht, folgen zu können. Erst nach einigen Minuten erkennt man, dass es sich bei der Aufnahme um ein Gespräch zwischen drei Parteien handelt.

Aus dem CD-Spieler erklingt die Stimme von Mara Genschel. Sie liest das gesamte Skript des Streitgesprächs zwischen Durs Grünbein und Uwe Tellkamp, das im März 2018 in Dresden stattfand. In dem Streitgespräch redeten die Teilnehmer über Meinungsfreiheit, die Gesellschaft, „Rechts“ und „Links“ und Möglichkeit einer „Meinungsdiktatur“.

Mit einer belegten, zum Teil schwer verständlichen Stimme und immer wieder durch Husten unterbrochen trägt sie die Redebeiträge von Grünbein, Tellkamp, der Moderatorin sowie die Diskussionsbeiträge aus dem Publikum vor. Neben dieser Aufnahme wird zeitgleich eine verzerrte Aufnahme einer Opernarie von einer Kassette abgespielt.

Beim Hören stellt sich ein Gefühl von Unbehagen ein. Die verzerrte Musik erinnert an den Soundtrack aus einem Horrorfilm und die Stimme klingt leidend. Dieser Eindruck im Zusammenhang mit dem Inhalt des Streitgesprächs verstärkt die Wirkung des Gesagten.

Im Streitgespräch sind Angehörige zweier unterschiedlicher Positionen aufeinander getroffen und genau das passiert auch am Flohmarktstand: die Besucher*innen und die Künstlerin kommen durch die Installation ins Gespräch, Musik und Sprache werden kombiniert, ein Gespräch aus dem Jahr 2018 wird im August 2019 in einem anderen Rahmen präsentiert. Das absurde Klangerlebnis wird von den Flohmarktbesucher*innen und Standnachbar*innen nicht nur positiv aufgenommen. Die Standbesitzer beschweren sich „über den Lärm“ und sagen, sie wollten doch hier nur ihren Sonntag genießen und fühlten sich davon gestört.

Sie fordern die Künstlerin auf, leiser zu sein und fragen verständnislos, was genau an diesem Stand passieren würde und warum hier nichts verkauft wird. Über diese Interaktionen kommt Genschel mit den sich beschwerenden Flohmarkt-Veteranen und Passanten ins Gespräch. Sie diskutieren über Kunst, Politik und die „heutige“ Gesellschaft. Eine Intervention gleich auf mehreren Ebenen.

PoetryAudioLab war ein Projekt der Lettrétage, gefördert von der Senatsverwaltung für Kultur und Europa.

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