„Poesie Handverlesen“ stellt sich vor

Am Samstag heißt es bei uns: Text kommt in Bewegung. Auf die erste offene Abendveranstaltung unserer Freund*innen und Kooperationspartner*innen Poesie Handverlesen haben wir uns schon eine Weile gefreut. Handverlesen arbeitet an einer Stärkung von gehörlosen Künstler*innen und ihrer Gebärdensprachpoesie in der hörenden Literaturwelt. Auf Workshops und Werkstätten haben sich hörende und gehörlose Künstler*innen vernetzt und an neuen Übersetzungs- und Präsentationstechniken gearbeitet. Das Ergebnis werden wir am 22. Juni zum ersten Mal zu Gesicht bekommen. Wir sind schon mächtig gespannt auf die Lesung und Gebärdensprachperformance am Samstag mit Julia Hroch, Laura-Levita Valyte und Anna Hetzer.

Auf unserem Blog stellt sich Handverlesen schon einmal in drei Fragen vor.

Eure Initiative gibt es seit Anfang 2017 – Wie kam es zur Gründung?

Es fing mit einem Buch an: Wir sind auf die französischsprachige Anthologie „Les mains fertiles“ (2016) gestoßen, die Gedichte in französische Gebärdensprache übersetzt. Wir wurden neugierig und recherchierten, was für Bücher es in dieser Richtung in Deutschland gibt, also Lyrik und Literatur, die in deutsche Gebärdensprache übersetzt wurde. Wir konnten es zuerst nicht glauben, aber wir mussten feststellen, dass es keine deutschsprachige Publikation dieser Art gibt. Wir waren empört und beschlossen, das selbst in die Hand zu nehmen. Am Anfang wollten wir eigentlich nur eine Lyrik-Anthologie herausgeben. Schnell wurde klar, dass es dafür eine intensive Vorarbeit braucht, kulturelle Vermittlung und Vernetzung zwischen hörender und Tauber Szene. Dass wir viele offene Fragen hatten (und haben!), die sich erst durch die künstlerische Zusammenarbeit Tauber und hörender Künstler*innen beantworten lässt. Wir gründeten die Initiative, weil das Problem größer und politischer ist als wir dachten: Es fehlt nicht nur ein Buch, sondern es braucht ein Umdenken darüber, was Literatur ist und sein kann, wer sie macht und mit welcher Sprache. 

© handverlesen

Die Gründung ist nun schon zwei Jahre her, im Frühjahr habt ihr zwei Workshops organisiert und am 22. Juni beginnt die erste große öffentliche Veranstaltungsreihe der InitiativeWas ist das Besondere daran?

Gebärdensprachpoesie gibt es zwar schon lange, aber es ist etwas ganz Neues, dass sie im hörenden Literaturbetrieb sichtbar wird. Dass Taube Künstler*innen bei der Veranstaltungsreihe an einem Ort der hörenden Literaturszene auftreten, und dass sie auf Augenhöhe mit hörenden Lyriker*innen zusammenarbeiten.
Der Hintergrund dafür: Taube Künstler*innen haben insgesamt viel weniger Gelegenheiten und Infrastrukturen (Festivals, Förderungen, Workshops), um kreativ zu arbeiten. Und sie kommen selten in Berührung mit hörenden Lyriker*innen. Es gibt also wenig Austausch. Das Ziel der beiden Workshops war deshalb, Raum für neue gebärdensprachliche Produktionen und den intensiven fachlichen Austausch zwischen hörenden und Tauben Künstler*innen zu schaffen. Und vor allem: das gegenseitige Übersetzen von Poesie in beiden Sprachen in die jeweils andere – und die wird bei den Veranstaltungen präsentiert und für ein gemischtes Publikum zugänglich gemacht.

Eine Frage, die euch immer wieder gestellt wird: Können Taube denn nicht einfach lesen und ihre Poesie aufschreiben?

Deutsche Lautsprache und deutsche Gebärdensprache sind zwei völlig unterschiedlich strukturierte Sprachen. Natürlich lernen Taube Menschen Schreiben und Lesen, aber Laut- und Schriftsprache ist trotzdem nicht ihre Muttersprache, sondern eine Fremdsprache, die sie ohne Hörverstehen erwerben müssen. Es ist also sehr individuell, wie gut und wie gerne eine gebärdensprachlich sozialisierte Person Schriftsprache nutzt. Die Poesie-Performances, die im Original in Gebärdensprache erschaffen werden, lassen sich gar nicht aufschreiben. Dafür müssen sie erst übersetzt werden, von einer visuellen in eine schriftliche Sprache. Und die Herstellung einer überzeugenden Übersetzung würden wohl die meisten Autor*innen nur denen zutrauen, die in der jeweiligen Zielsprache zuhause und/oder Muttersprachler*innen sind.