Zitat der Woche

War das Gefühl des Zuhauseseins früher mit dem konkre-
ten Ort verbunden, aus dem wir stammen, ist es heute eher mit
einem imaginären Ort verknüpft, zu dem wir hinwollen. Zu-
hause ist inzwischen etwas, das wir uns in einem lebenslangen
Prozess suchen und selbst aufbauen müssen: gleichermaßen
ein realer wie ein innerer, ein spiritueller und ein sozialer Ort,
an dem wir uns aus Gründen, die uns nicht einmal bewusst
sein müssen, niederlassen. Im kollektiven Verständnis von »Zu-
hause«, lange Zeit gleichbedeutend mit »Herkunft«, scheint
es nunmehr vor allem um die Suche zu gehen, um eine der
vielleicht wesentlichsten Suchen überhaupt: nach einer Ge-
meinschaft, einer Familie und einem inneren Einklang mit
der Welt. Nach einem Ort, an dem eine Flucht ein Ende findet
oder an dem man aufhört wegzulaufen. Nach einem Ort, der
die Möglichkeit birgt, bei sich selbst anzukommen.

Von Daniel Schreiber

Aus „Zuhause“

Literaturformate online (Teil 1)

Da der Literaturbetrieb nicht nur in Berlin bis auf Weiteres (zu Recht) ins Wohnzimmer verbannt ist, wollen wir Sie hier regelmäßig auf spannende Online-Formate aus der Literaturszene hinweisen, mit denen gerade überall versucht wird, Lesungen, Workshops und andere Veranstaltungen weiterhin stattfinden zu lassen – nur eben im digitalen Raum. Hier ist unsere erste (natürlich bei weitem nicht vollständige) Liste, weitere werden demnächst folgen.

„Literaturformate online (Teil 1)“ weiterlesen

Zitat der Woche

Ich wundere mich
wieso heute alle Menschen lächeln
sie lächeln in der Innenstadt
sie lächeln an der Hauptwache
sie lächeln beim Eisessen
sie lächeln auf der Rolltreppe
sie lächeln in der S-Bahn
sie lächeln an der Haltestelle
dann fällt mir aber auf
dass nicht sie es sind, die lächeln
ich bins, die lächelt
sie antworten nur.

Von Safiye Can

Aus „Kinder der verlorenen Gesellschaft“

Ankerinstitution digital!

Liebe Nutzer*innen und Gäste der Lettrétage, in den letzten Wochen wurden sämtliche Literaturveranstaltungen nicht nur in der Lettrétage, sondern auch in anderen Räumen abgesagt. Wir wissen momentan nicht, wann es uns wieder möglich sein wird, unser Programm fortzusetzen. Bis dahin arbeiten wir daran, Formate zu entwickeln, um digital Veranstaltungen anzubieten und die freie Literaturszene unterstützen zu können. Wir sagen hier schon einmal: Stay tuned! Gleichzeitig passiert schon sehr viel: Auf Social Media bieten verschiedene Autor*innen Livestream-Lesungen an, posten Videos und vernetzen sich weiter. Sogar ein eigenes digitales Festival ist daraus entstanden: Viral – das online Literaturfestival in Zeiten der Quarantäne.

Wir jedenfalls wollen in den nächsten Wochen das machen, was wir als Ankerinstitution für die freie Literaturszene bisher auch gemacht haben: mit unserer Infrastruktur die freie Szene unterstützen und ihr weiterhin unsere Räume zur Verfügung zu stellen, nur dass dies bis auf Weiteres unsere digitalen Räume sein werden. Deshalb: Wenn Sie Videos Ihrer Lesungen haben oder sie gerade aufnehmen, wenn Ihre Buchpräsentationen ausfallen, Sie aber Material haben, das geteilt und hochgeladen werden kann usw. – schicken Sie es uns. Let’s work together!

Sämtliche Veranstaltungen bis auf Weiteres abgesagt

Das Lettrétage-Team hat heute beschlossen, sämtliche geplanten, öffentlichen Veranstaltungen bis auf Weiteres abzusagen. Damit folgen wir einer aktuellen Empfehlung von Berliner Amtsärzt*innen zur Absage sämtlicher (!) Veranstaltungen „mit einem höheren Risiko für Infektionsübertragungen, insbesondere Sportveranstaltungen sowie kulturelle Veranstaltungen inklusive Clubs“. Mehr dazu finden Sie hier in einem Bericht des rbb. Die Angebote im Rahmen des Projekts Schreiben & Leben werden weiterhin stattfinden.
Wir bedauern sehr, dass wir unser Programm nicht wie geplant durchführen können, sind aber davon überzeugt, dass diese konkrete Maßnahme, um eine Erweiterung der Infektionswege zu verhindern, notwendig ist. Wir haben die Entscheidung nicht überstürzt, sondern ruhig und wohlüberlegt getroffen – und hoffen, dass Sie Verständnis dafür haben.
Vor allem aber hoffen wir, dass es Ihnen allen gut geht, Sie gesund sind und es hoffentlich bleiben. Wenn wir unser Programm wieder fortsetzen, werden wir Sie selbstverständlich darüber informieren.

Zitat der Woche

Die Wahrheit ist, dass ich ein moderner Hippie bin, aber ich
habe versucht, ein Angestellter zu sein. Ich wollte meine Eltern
stolz machen, weil ich weiß, dass sie sich wünschen, ich würde
den prekären Hustle, den sie mir vorgelebt haben, nicht wieder-
holen. Aber ich wiederhole beides: das Prekariat und den Hustle.
Und währenddessen fühle ich in mir die Enttäuschung und die
Entbehrungen, die sie für mich und meine Geschwister auf sich
genommen haben, damit wir es ihnen nicht nachmachen. Es ist
nicht leicht für sie, mitanzusehen, wie ihre Ängste und Unzu-
länglichkeiten in mir wiederkehren. Ich widersetze mich nicht
absichtlich ihren Wünschen, aber ich kann mich nicht der Kon-
formität und dem Nutzdenken beugen, ohne allmählich auszu-
brennen und lebenlänglich zombiehaft dahinzusiechen. Ich will
Mystik und Existenzialismus.
Und gleichzeitig lebte ich in Miami, umgeben von Dekadenz
und Neonlichtern, ohne Geldsorgen und Fremdaufträge, damit
ich meine auratische Phänomenologie weiterbetreiben konnte –
auf der Suche nach dem, der ich wirklich war, knietief in Erschei-
nungen wartend, die aus einem ureigenen, verborgenen Antrieb
wirken; die uns umgeben, während wir im andauernden Koma
meinen, von überhaupt nichts umgeben zu sein.

Auszug aus „Flexen in Miami“

von Joshua Groß

Zitat der Woche

Der Fischreiher

Steht & steht
im letzten Loch des
streng vereisten Tümpels
Aachener Weiher.

Steht & steht
& seht, er steht, er hat
sich nicht & nicht & nicht
kein bisschen dort bewegt.

Ich im 2reiher
1gemummt & wart
& wart & wart,
bis er die eisig zart
und tränenharten Federn hebt,
wodurch er zeigt, dass er nicht
hin ist, sondern lebend steht:

Der blauer Reiher, da
zieht er mit hart gefrorenem
und messerscharfem Schnabel
aus dem vereisten
Aachener Wasser,
das er mit seinen
frostig Krallen
aufgemischt, heraus:
ein fauliges Elektrokabel.

Und würgt es sich hinein.
Wie cool kann man sein.

Von Julia Trompeter

Aus: poet nr. 20 literaturmagazin