Nune Arazyan: Das Tor der Verwandlung

Beitrag und Interview von Thomas Maier

Der Juli in der Lettrétage ist etwas anders. Nach „Disappearances. Appearances. Publishing.“ und „Modificating Singularity“ gastiert vom 21. bis 25.07. mit Nune Arazyans „Das Tor der Verwandlung“ bereits die dritte Ausstellung binnen eines Monats bei uns. Die Petersburger Künstlerin, ausgebildet in der renommierten Eremitage, setzt sich darin unter anderem mittels einer Installation aus rotierenden, immer neue Verbindungen eingehenden Trommeln mit der monumentalen Thematik der russischen Revolution auseinander. Das Ereignis jährt sich dieses Jahr zum hundertsten Mal. Sie sehen also, wir haben das recht geschickt getimet. Vorab haben wir uns außerdem bereits im Juni mit Nune Arazyan über Kunst, die Ästhetik des revolutionären Umbruchs und die Verbindung zwischen Berlin und Sankt Petersburg unterhalten.

TM: Nune, du bist unserem Publikum wahrscheinlich eher unbekannt. Vielleicht könntest du einfach kurz erzählen, warum du tust, was du tust und worum es dir bei der Kunst geht.

NA: Ich bin durch einen Autounfall Künstlerin geworden. 2007, als ich sechs Jahre alt war, brach ich mir beim Zusammenstoß mit einem Wagen, der auf den Gehsteig ausweichte, um einen entgegenkommenden Fahrer nicht zu rammen, zehn Rückenwirbel. Meine Mutter brach sich dabei das Bein, wir mussten beide ins Krankenhaus. Da fing ich zum ersten Mal an zu malen.

© Vladimir Egorov

Zuerst waren meine Bilder ein Kommunikationsmittel zwischen meiner Mutter und mir. Wir lagen in verschiedenen Krankenhäusern, deswegen konnten wir nur durch Bilder den Zustand des jeweils anderen einschätzen. Während der ersten Wochen dachte ich nicht, dass ich je wieder gehen oder laufen würde. Ich habe dann, als Kind, entschieden, dass ich, wenn ich schon nicht laufen kann, fliegen würde. Meine erste Ausstellung hieß „Das Fliegen wagen“ und hat mich gewissermaßen wieder auf die Beine gebracht. Am wichtigsten in der Kunst finde ich aber, dass der Künstler einen Raum für das Publikum schafft, es hindurch führt, ihm eine Weltempfindung vermittelt. Ich lege auch viel Wert darauf, dass Kunst immer einen Einfluss hat. Niemand kann wissen, auf welche Art ein Betrachter ein Kunstwerk erschließen wird, aber der Künstler muss sozusagen einen Faden vorgeben, an dem sich das Publikum entlang hangeln kann. Kunst ist immer eine Transgression für mich, egal ob es um das ganze Leben oder um eine eintägige Ausstellung geht.

TM: Du bist ja eine recht junge Künstlerin, die nicht in der Sowjetunion gelebt hat. Wie kommt es da, dass dich die Revolutionsthematik derart fesselt? Ist das auch einfach eine theoretisch-ästhetische Faszination, die von dieser Neuordnung der Dinge ausgeht? Ich denke da auch ein bisschen an Blok, um ehrlich zu sein.

NA: Die Revolutionsthematik interessiert in Russland derzeit sehr viele Menschen. Revolutionsgeist und Revolutionsbewusstsein sind merklich ins Bewusstsein der Menschen zurückgerufen. Genauer gesagt ist das in Russland nicht nur eine theoretische Thematik, sondern ganz praktischer Alltag. Vor kurzem entstand die низовое движение (Grassroots-Bewegung), die neue Vektoren der Veränderung und Verwandlung schafft. Das bedeutet für uns als russische Staatsbürger, dass wir dem Tor der Verwandlung direkt gegenüber stehen. Wir müssen aufmerksam sein, um denjenigen Punkt zu finden, in dem die Interessen, Fantasmen, Ängste, Utopien und Erwartungen, in die unsere Gesellschaft zerfallen ist, zusammentreffen.

TM: Vielleicht hast du es schon gesehen, ich habe aus den Fotos, die du mir geschickt hast, das für meinen Beitrag ausgewählt, in dem eine junge Frau sich zu einer Wand dreht, auf der „nuzhny process“ (notwendiger Prozess) geschrieben steht. Ist Revolution das für dich, eine historische Notwendigkeit?

NA: Für mich auf jeden Fall, ja. Hierbei muss man aber auf einige Charakteristika unserer Zeit eingehen. Revolutionäre Tendenzen hängen von den Beziehungen zwischen Staat und Gesellschaft ab. Wenn der Staat sich in eine höchst konservative, die Gesellschaft sich aber in eine reformatorische Richtung entwickelt, entsteht zwischen ihnen ein unüberwindbarer Bruch. Dieser Bruch ist das, was ich das Tor der Verwandlung nenne. Hier kommt es dann entweder zur Revolution, oder der Staat akzeptiert neue soziale Formen und Institutionen. Bedeutend oder beispielhaft ist da zum Beispiel das Marsfeld in Sankt Petersburg. Das ist eine ganz neue Form der sozialen Institution, die sich aus den äußeren Umständen heraus entwickelt hat und ihre Funktion in den Bereichen Integration, Erziehung und Axiologie findet. Ich glaube, Revolution ist dazu da, mit feststehender Ordnung zu brechen, wenn die Gesellschaft in dieser Ordnung zu sehr eingeengt ist.

TM: Abschließend würde mich noch interessieren, warum du dich für Berlin als Ausstellungsort und ja auch für die Gegenüberstellung von urbaner Malerei aus Berlin und Sankt Petersburg in einem Teil der Ausstellung entschieden hast. Was verbindet für dich die beiden Städte, welchen Platz nehmen sie in deiner Neuanordnung ein?

NA: Zum einen verbindet die beiden Städte die russische Emigration, sowohl zu Sowjetzeiten (denken Sie an Zvetaeva oder Nabokov), als auch heute sowie ähnliche politische Situationen in den 30er und 40er Jahren. Jetzt allerdings wendet sich Russland der Vergangenheit, Berlin aber der Zukunft zu. Dementsprechend bietet sich für mich die Möglichkeit, in diesem Projekt eine besondere Amplitude zwischen den beiden Orten zu schaffen. Das Tor der Verwandlung und der Übertritt in die Zukunft öffnet sich dort, wo man neue Verbindungen zwischen dem errichten kann, was noch zusammenhangslos und unbedeutend erscheint. Statt der Anthologie der Einheit behauptet das Projekt die Anthologie des Zusammenfallens. Die Revolution fragt danach, wie man aufhören kann, sich der Vergangenheit unterzuordnen und die Zukunft von der Vergangenheit befreien kann.

TM: Nune, vielen Dank für das Gespräch.

 

Veranstaltungshinweis:

Freitag, 21., bis Dienstag, 25. Juli 2017, Vernissage 21.07., 19:00 Uhr (Eintritt frei)
Das Tor der Verwandlung
Ausstellung mit Nune Arazyan, der „Schule des Südens“, Vladimir Egorov und Svetlana Veselova