Textauszüge aus Pilar Adón: Der grausamste Monat

Am kommenden Mittwoch, 1. Dezember 2010, stellen wir den neuen, im April in Spanien erschienenen Erzählband Der grausamste Monat von Pilar Adón vor. Wer schon vorab ein bißchen schmökern möchte, kann hier den Anfang der Erzählung „Noli me tangere“ lesen. Die Fortsetzung davon und weitere Erzählungen gibt’s am Mittwoch in der Lettrétage!

An diesem Morgen hatte sie den Bus zum Hafen genommen. Der kleine Koffer, den sie dabei hatte, war nicht allzu schwer und glücklicherweise wurde sie auf dem Weg zur Bushaltestelle nicht aufgehalten und musste mit niemandem reden. Als sie schließlich in den Bus stieg, nachdem sie sich einen Fahrschein gekauft hatte und etwas ruhiger atmen konnte, nachdem sie sich vergewissert hatte, dass niemand auf sie zukam, um sie zu fragen was sie hier mache und wohin sie wolle, beschloss sie, dass es das Beste sei, sich in die Nähe des Fahrers zu setzten und sofort ein Buch aufzuschlagen, um sich darin zu verstecken und die Augen nicht davon abzuwenden, bis sie ihr Ziel erreicht haben würde.

Als der Bus losfuhr, schaute sie sich die anderen Passagiere an: Ein Mann von etwa sechzig Jahren saß auf der anderen Seite des Gangs, in der zweiten Reihe, am Fenster, und als ihre Blicke sich kreuzten, lächelte er offen in ihre Richtung, so als ob er Julia schon lange kennen würde, aber diskret sein wolle. Tatsächlich hatten sie sich noch nie gesehen. Hinter ihr, drei Reihen weiter, hatte ein Pärchen genau in dem Augenblick, in dem der Motor angelassen worden war, angefangen zu streiten. Sie hatten sich bestimmt schon auf der Straße gezankt oder sogar noch davor, zu Hause. Wenn sie sich ein wenig konzentrierte, könnte sie verstehen, worüber sie stritten und was sie einander sagten, mit heiseren Stimmen, teils noch vom Schlaf, aus dem sie noch nicht völlig aufgetaucht waren, teils durch die Anstrengung, mit der sie versuchten, den Ton ihrer Vorwürfe zu dämpfen. Einmal verstand Julia klar und deutlich, was sie zu ihm sagte: »Kannst du bitte leiser sprechen? Oder soll das alle Welt mitbekommen?«

Die übrigen, drei etwa achtzehnjährige Jungen, hatten es sich auf den Sitzen der letzten Reihe bequem gemacht, wo sie die Beine lang machen oder sich, wie sie es später wirklich tun würden, eine Zigarette anzünden konnten.

Als sie sich sicher war, dass niemand sie erkannte, konnte sie sich endlich von der Geschwindigkeit der Bäume mitreißen lassen. Sie hielt ihr Buch aufgeschlagen (ein Baum… noch ein Baum…), aber im Moment wollte sie, obwohl sie die Landschaften der Insel gut kannte, sich lieber dem Blick aus dem Fenster hingeben. All die Zweifel, die sie geplagt hatten, waren verschwunden, waren verdunstet in dem Moment, in dem die eigentliche Reise begonnen hatte, die Bewegung. Vielleicht deshalb, weil sich nun ihre ganzen Erwartungen auf ihr Ziel richteten, und weil dadurch die Menschen und Dinge des Ortes, den sie gerade verlassen hatte, ihre Bedeutung verloren. Oder vielleicht, weil ihr das sanfte Vibrieren der Fortbewegung eine sonderbare Ruhe bescherte, eine unerwartete Stetigkeit, die sie daran erinnerte, dass ihr Weg in den nächsten Stunden nicht mehr von ihr abhängen würde, und dass jede Entscheidung, jegliches Vorhaben bis zum Augenblick der Ankunft würde zurückgestellt werden müssen.

Zwischen den Seiten ihres Buches steckte das Ticket für die Fähre, die sie von dieser Insel, auf der sie vier lange Jahre gelebt hatte, fortbringen würde. Tatsächlich fühlte sie sich in diesem Bus auf eine sonderbare Weise ruhig.

(…)

An diesem Morgen hatte sie den Bus zum Hafen genommen. Der kleine Koffer, den sie dabei hatte, war nicht allzu schwer und glücklicherweise wurde sie auf dem Weg zur Bushaltestelle nicht aufgehalten und musste mit niemandem reden. Als sie schließlich in den Bus stieg, nachdem sie sich einen Fahrschein gekauft hatte und etwas ruhiger atmen konnte, nachdem sie sich vergewissert hatte, dass niemand auf sie zukam, um sie zu fragen was sie hier mache und wohin sie wolle, beschloss sie, dass es das Beste sei, sich in die Nähe des Fahrers zu setzten und sofort ein Buch aufzuschlagen, um sich darin zu verstecken und die Augen nicht davon abzuwenden, bis sie ihr Ziel erreicht haben würde.

Als der Bus losfuhr, schaute sie sich die anderen Passagiere an: Ein Mann von etwa sechzig Jahren saß auf der anderen Seite des Gangs, in der zweiten Reihe, am Fenster, und als ihre Blicke sich kreuzten, lächelte er offen in ihre Richtung, so als ob er Julia schon lange kennen würde, aber diskret sein wolle. Tatsächlich hatten sie sich noch nie gesehen. Hinter ihr, drei Reihen weiter, hatte ein Pärchen genau in dem Augenblick, in dem der Motor angelassen worden war, angefangen zu streiten. Sie hatten sich bestimmt schon auf der Straße gezankt oder sogar noch davor, zu Hause. Wenn sie sich ein wenig konzentrierte, könnte sie verstehen, worüber sie stritten und was sie einander sagten, mit heiseren Stimmen, teils noch vom Schlaf, aus dem sie noch nicht völlig aufgetaucht waren, teils durch die Anstrengung, mit der sie versuchten, den Ton ihrer Vorwürfe zu dämpfen. Einmal verstand Julia klar und deutlich, was sie zu ihm sagte: »Kannst du bitte leiser sprechen? Oder soll das alle Welt mitbekommen?«

Die übrigen, drei etwa achtzehnjährige Jungen, hatten es sich auf den Sitzen der letzten Reihe bequem gemacht, wo sie die Beine lang machen oder sich, wie sie es später wirklich tun würden, eine Zigarette anzünden konnten.

Als sie sich sicher war, dass niemand sie erkannte, konnte sie sich endlich von der Geschwindigkeit der Bäume mitreißen lassen. Sie hielt ihr Buch aufgeschlagen (ein Baum… noch ein Baum…), aber im Moment wollte[K1] sie, obwohl sie die Landschaften der Insel gut kannte, sich lieber dem Blick aus dem Fenster hingeben. All die Zweifel, die sie geplagt hatten, waren verschwunden, waren verdunstet in dem Moment, in dem die eigentliche Reise begonnen hatte, die Bewegung. Vielleicht deshalb, weil sich nun ihre ganzen Erwartungen auf ihr Ziel richteten, und weil dadurch die Menschen und Dinge des Ortes, den sie gerade verlassen hatte, ihre Bedeutung verloren. Oder vielleicht, weil ihr das sanfte Vibrieren der Fortbewegung eine sonderbare Ruhe bescherte, eine unerwartete Stetigkeit, die sie daran erinnerte, dass ihr Weg in den nächsten Stunden nicht mehr von ihr abhängen würde, und dass jede Entscheidung, jegliches Vorhaben bis zum Augenblick der Ankunft würde zurückgestellt werden müssen.

Zwischen den Seiten ihres Buches steckte das Ticket für die Fähre, die sie von dieser Insel, auf der sie vier lange Jahre gelebt hatte, fortbringen würde. Tatsächlich fühlte sie sich in diesem Bus auf eine sonderbare Weise ruhig.


[K1]„Sie beschloß sich hinzugeben“ klingt für mich in semantsicer Hinsicht total verquer. Allerdings sehe ich bier auch die bewußte Entscheidung und schlage daher vor „wollte sie sich lieber hingeben.“

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