Textauszüge aus Óscar Sipán: Anzeichen von Niederlagen

Am nächsten Mittwoch, 10.11.2010, stellen wir einige Erzählungen von Óscar Sipán aus dem Erzählband ‚Avisos de derrota‘ vor. Vorab können Sie schon hier den Anfang der Erzählung ‚Il mondo mio‘ lesen. Am Mittwoch gibt’s mehr davon in der Lettrétage!

Das Begehren und das Glück können nicht gemeinsam existieren – Epiktet

Für Mario

Eine Kalksteinmauer mit Einschusslöchern umgab den Friedhof. Er betrachtete das geordnete Universum der Gräber, die Eidechsen an der Laterne und das sanfte Schaukeln der Zypressen vor dem zunehmenden Mond und fühlte sich glücklich, erfüllt, zufrieden. In der Routine lag ein Trost, den keine Religion bieten konnte. Er zündete sich eine Zigarette an und blies den Rauch in Richtung der brachliegenden Felder und der rechtwinklig angelegten und nicht recht durchdachten Gemüsegärten. Die Nacht hatte ihn beim Fertigstellen eines Grabes überrascht. Ihr Name war Virginia Clemm und sie war die einzige Tochter des örtlichen Großgrundbesitzers. Ihr plötzlicher Tod hatte für große Aufregung in der Provinz gesorgt. Der Leichenzug, eine Art düstere und schweigsame Schlange, hatte den Sarg bis zur Eingangspforte begleitet und dort Sträuße und Blumenkränze niedergelegt, deren Duft die Ebene tagelang erfüllen würde und die dann zu faulen beginnen sollten. Er liebte es die Welt von diesem einsamen Hügel aus zu betrachten. Wie schon die Totengräber vor ihm, so lebte auch er innerhalb der Mauern des Friedhofs. Sein Haus war schmal und ohne Fenster, hatte ein Spitzdach aus Schiefer, einen Kerosinkocher und ein Taufbecken, das als Waschbecken diente. Das blutleere und kränkliche Porträt seiner Mutter herrschte über das Ehebett und verbarg den Schatten eines Kruzifixes. Ein termitenbefallener Schrank, ein Holzofen, ein Röhrenradio Marke „Castilla“, ein mit Zeitungspapier ausgelegtes Regal voll mit Gläsern eingemachter Früchte und Konservendosen, ein rissiger Tisch und ein Stuhl komplettierten den Wohnraum. Er zog seine Arbeitskleidung aus und hing sie auf einen Kleiderbügel. Dann goss er sich einen alten Wein ein, der reichhaltig wie ein Cognac war, entschloss sich eine Knoblauchsuppe zuzubereiten und weichte die Kichererbsen für den nächsten Tag ein. Wie jede Nacht las er in der Bibel und ging noch einmal nach draußen, um frische Luft zu schnappen.
Mitternacht. Es wehte eine leichte Brise. An windigen Tagen bogen sich die Zypressen wie Uferbinsen; um nicht umzufallen klammerten sie ihre Wurzeln an die Toten. Er stieg zu einem Grab hinauf und lehnte sich mit dem Rücken an dem schmiedeeisernen Kreuz an. Die letzten zwei Jahre waren die besten seines Lebens gewesen. Als er die Stelle angenommen hatte, hatten ihn seine Familienangehörigen angesehen, als ob er ihnen gerade abgestandenes Wasser angeboten hätte.

Totengräber, tiefer kann man nicht sinken, hatte sein älterer Bruder geurteilt. Weißt du nicht, dass die Nutten von denen das doppelte verlangen?, hatten ihm seine Freunde an dem Tag gesagt, an dem er das Sägewerk betreten und sich verabschiedet hatte. Als er von seinem Militärdienst in der Sahara zurückgekehrt war und vom Zug aus das Ortsschild seines Heimatdorfs gelesen hatte, war etwas in seinem Kopf zerbrochen. Er hatte versucht den Schmerz mit Alkohol und Arbeit zu betäuben, aber es hatte nicht funktioniert. Jetzt endlich hatte er seinen Platz auf der Welt gefunden.
Ein seltsamer Lärm riss ihn aus seinen Gedanken. Und es war nicht die Eule, die ihre Krallen in die kranke Ulme schlug und auch nicht die Maulwürfe, die ihre Tunnel gruben, oder die Ratten, die sich im Beinhaus um ein Schlüsselbein stritten: Dieses Geräusch, das nach Wasserspeiern beim Liebe machen klang, kam aus dem frischesten Grab.

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