Textauszüge aus B. Riestra: Alles braucht seine Zeit

Morgen stellt ‚Luces in the sky[pe]‘ Blanca Riestras Roman ‚Todo lleva su tiempo‘ vor. Schon vorab können Sie hier das erste Kapitel in der deutschen Übersetzung von Stefan Degenkolbe lesen. Mehr davon gibt’s morgen in der Lettrétage!

Bevor sich die Türen des Gefängnisses hinter mir schließen, lassen Sie mich Ihnen zumindest erklären, was mich zu dem gemacht hat, das ich bin. Was sehe ich, wenn ich meine Hände betrachte? Sie sind nicht mit Blut besudelt; Blut ist auch nichts weiter als eines der vielen Blendwerke, in denen sich das Leben zeigt. Blut ist nicht unauslöschbar, es lässt sich mit Wasser abwaschen.

Ich werde mit dem Anfang beginnen: Die erste Erinnerung, die ich an meine Kindheit habe, ist der Käfig, in den sie mich eingesperrt haben. Ich muss zwei oder drei Jahre alt gewesen sein, und ich war schon völlig hinüber. Mein Vater hängte mich in einen Baum, wie einen Paradiesvogel. Und meine Mutter setzte sich, ihrem Schicksal ergeben, zu mir, um mir vorzulesen, sie stolperte über die Worte, die Bruchstücke des einzigen Buches, das wir besaßen: ein Band mit Heiligenlegenden, voller Verstümmelungen, Verbrechen, römischen Arenen. Es ist sonderbar, ich hörte immer auf zu weinen, wenn ich ihr lauschte, und schlief mit dem Daumen im Mund ein, wie ein Engelchen.

Die Welt hat die Angewohnheit uns herumzustoßen, uns gewalttätig und lieblich in ihren Lauf zu zwingen, sodass die Zärtlichkeit der Mutter und die Wärme der Plazenta sogleich der Eiseskälte und der Angst weichen. In meiner Erinnerung zeichnet sich jenes Dorf in den dunklen Farben der Verlorenheit. Nichts davon existiert mehr. Vor einigen Jahren wurde der Kirchplatz durch den Bau einer Schnellstraße gespalten, und um die Narbe herum sprossen Tankstellen, Hochhäuser und gespenstische Lagerhallen.

Sicherlich, mein Herr, wissen Sie, dass die Kinder wie kleine Blitzableiter sind, mit offenen Augen und unsicheren Schritten. Der Wolf ist ein Wolf, von der Wiege an, und das Lamm ringt darum, dem Gemetzel zu entrinnen. Mit nur sechs Jahren sah ich schon Kathedralen in den Pfützen und Tanzsäle in den Baumwipfeln. Ich setzte mich, mir in einer wundersamen Weise meiner Hände bewusst, alleine auf die Klippen, um die Wellen, die die Landschaft formte, zu betrachten, die mir in meinem Taumel wie Wälle erscheinen, die meinen spindeldürren Körper umgaben, und ich stellte mir winzige Welten in den Kelchen der Blumen vor, versuchte die Farbe zu erahnen, die das Meer jenseits der Berge haben müsste. Und nach der Schule konnte man mich sehen, wie ich an der Bushaltestelle stand und auf die Rückkehr der Reisenden lauerte, die mit Paketen und jungen Hühnern bepackt aus der Stadt kamen.

Falls es zufällig einmal regnete, stellte ich mich nicht unter, ich blieb dort, mitten auf der verlassenen, von den Schatten der Wolken gefleckten Wiese. Jener Wiese, die in ihrem Inneren Melodien zu singen schien. Ich erinnere mich noch an das angstvolle Gebrüll meiner Mutter oder meiner Großmutter an diesen feuchten Nachmittagen: Sie suchten mich verzweifelt, weil sie mich schon rettungslos verloren wussten. Ich mochte dieses Gefühl, halb nackt und bis auf die Haut durchnässt zu sein. Es ist, als hätte ich geglaubt – wie auch immer ich darauf gekommen bin –, dass es die Ausläufer der Wellen seien, die sich über mich ergossen, und dass ich, wenn ich nur lang genug ausharren würde, mich in einem Sturm und zwischen Galeonen und Piratenschiffen wiederfinden würde. Und einmal entdeckte ich sogar eine schwarze Fahne an einem schwankenden Mast.

Die Kindheit ist kein Zuckerschlecken, mein Herr, der Schädel ist noch weich und die Schläge der Welt hallen in uns wieder. Haben Sie nie daran gedacht, dass wir alles, was wir werden, schon in der Wiege sind? Haben Sie nie daran gedacht, dass unser Körper, unsere Stimmungen, unsere Neigungen, unsere Widersprüche, schon vorhanden sind, während uns unsere Mutter noch schaukelt, uns die Flasche gibt, uns sauber macht und uns das Näschen kitzelt, wenn sie mit zarter Hand den glasklaren Schleim von unseren blinden Augen tupft? Ich denke, dass es so ist.

® Stefan Degenkolbe

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