Interview mit Óscar Esquivias

Dieses Interview erschien anläßlich der Verleihung des renommierten Literaturpreises ‚Premio Setenil‘ (2008) an Óscar Esquivias in der digitalen Literaturzeitschrift www.aviondepapel.com. Esquivias erhielt ihn für seinen Erzählband ‚La marca de Creta‘, der übermorgen (Mittwoch, 3.11.) in der Lettrétage vorgestellt wird.

Oscar Esquivias, PREMIO SETENIL 2008:

Das ist die große Stärke der Literatur, vom Einzelnen ausgehend über das Universelle sprechen zu können.

Von David González Torres

David González Torres: Oscar, ich möchte mit der Frage beginnen, warum Du Deinem Erzählband den Titel La Marca de Creta gegeben hast (diese römische Angewohnheit, die glücklichen Tage mit einem weißen Stein zu kennzeichnen)… Wie kamst Du auf diesen Titel? Vielleicht wegen der letzten Erzählung dieser Sammlung, die den gleichen Titel trägt, an der man besonders gut erkennt, was du mit Deinem Buch erzählen willst? Woraus entstehen diese Geschichten?

Óscar Esquivias: Ich habe den Titel wegen seines schönen Klangs gewählt, und weil ich seine Anspielung auf die Fröhlichkeit mag. Es ist sonderbar, aber bevor ich die Erzählung La Marca de Creta geschrieben habe, hatte ich gar nicht daran gedacht, eine Anthologie zusammenzustellen. Ich weiß nicht warum, aber ich spürte, dass diese Erzählung einen Wendepunkt darstellte, oder mich zumindest zum Nachdenken zwang: Ich bin daraufhin mein Werk der letzten fünfzehn Jahre durchgegangen und habe die Erzählungen ausgewählt, die mir am besten gefallen, die mich als Autor am besten darstellen, meine Art, die Welt zu sehen; es bildete sich ein Zyklus, der in seiner Einheit mehr war als eine schlichte Zusammenstellung von Texten. Und ich wollte diesem Buch von Anfang an den Titel La Marca de Creta geben, obwohl mir La fiesta más divertida (eine weitere der Erzählungen) auch gut gefallen hätte.

David González Torres: Wenn ich die Zusammenfassung von La Marca de Creta lese, kommt mir der Ausdruck »Fröhlichkeit« in den Sinn… Aber nachdem ich Deine Erzählungen noch einmal gelesen hatte, merkte ich, dass sich am deutlichsten die EINSAMKEIT zeigt… Ich meine die Erzählungen wie Maternidad oder Septiembre… In ihnen findet sich wenig Fröhlichkeit aber viele einsame Menschen, die verzweifelt einen Unterschlupf, Freundschaft, Liebe suchen… Freude findet sich nur in den vergänglichen Augenblicken, die das Buch durchziehen.

Óscar Esquivias: Da hast Du recht. Neben der Einsamkeit ist es vielleicht die Kommunikationslosigkeit, die die Situation meiner Protagonisten am meisten bestimmt, viele von ihnen leben mit einem Partner, sind aber nicht fähig, ihren Gefühlen Ausdruck zu geben. Jedenfalls ist die Sehnsucht nach Glück eine untergründige Triebkraft, die alles bestimmt und die sie ihr Leben ertragen lässt.

David González Torres: In der Handlung mancher Deiner Erzählungen sind körperliche Schmerzen der Figuren ein Auslöser ihrer Taten, andererseits treiben pathologische Gefühlszustände das Geschehen voran (ich denke da z. B. an Miedo und den Fieberwahn des Protagonisten oder an Expedition in die Kavernen des koch’schen Bazillus und die Tuberkulose…). Wählst Du solche Krankheiten überlegt aus, um daran die Handlung aufzubauen und so von den Gefühlen der Menschen zu sprechen?

Óscar Esquivias: Tatsächlich interessieren mich Krankheiten. Sie verändern unseren Charakter, unsere Erwartungen, unsere Empfindsamkeit, unsere Sicht der Welt. Wenn man in der Jugend eine ernsthafte Krankheit erleidet, wird man mit dem Tod nicht nur in einer theoretischen Weise konfrontiert. Das alles hat ein großes literarisches Potenzial, vorausgesetzt, dass man damit nicht effekthascherisch oder taktlos umgeht, versteht sich.

David González Torres: Deine Erzählungen sind so großartig, weil sie die Gefühle anrühren, weil Du tiefgründige Themen ansprichst (die Beziehung zwischen Eltern und Kindern, Jugendliebe, Familiengründung usw.), und zwar ausgehend von dem Persönlichen und Einzigartigen Deiner Figuren…

Óscar Esquivias: Das ist die große Stärke der Literatur, vom Einzelnen ausgehend über das Universelle sprechen zu können. Grade die Figuren, die man oft für literarische Archetypen hält, haben eine besonders ausgeprägte Eigenständigkeit.

David González Torres: Du spielst in erzählerischer Weise auch mit der Figur dessen, der soeben erst angekommen ist… Mit Personen, die aus der Provinz fliehen, um ihr Gelobtes Land an anderen, scheinbar eher kosmopolitischen Orten zu finden… So z. B. in La fiesta más divertida und in vielen anderen Erzählungen… Wie viel Autobiografisches erzählen diese Geschichten von Óscar Esquivias?

Óscar Esquivias: Ich wurde in Gamonal, einem Arbeiterviertel von Burgos geboren. Es war eigentlich ein Dorf, dem man ein Gewerbegebiet angegliedert hatte. Aufgewachsen bin ich in einer halb ländlichen (ich erinnere mich an die Weizenfelder, Schafherden, das Baden im Fluss und die Gärten), halb vorstädtischen Gegend (Müllhalden, Schornsteine, Fabrikhallen, Gleise, Kräne und Dampfwalzen). All die Leute waren von anderswo zum Arbeiten hergekommen (meinen Vater z. B. nannte sie »Cuenca«, weil er aus dieser Provinz stammte) und in der Schule war die erste Frage, die man uns stellte, aus welchem Dorf wir kämen, usw. Wenn wir von Gamonal nach Burgos fuhren, war das wie eine Reise in eine sehr elegante Stadt in einem anderen Land, in der es überall geschäftiges Treiben gab, Denkmäler, gepflegte Parkanlagen, edle Geschäfte. Einiges davon zeigt sich auch in meinen Erzählungen…

David González Torres: Als Autor setzt Du häufig auf einen sehr dominanten Icherzähler und auf kurze Sätze – wie Gedankenblitze… Ein Ich, das von seinen Handlungen und seinen Gefühlen erzählt, aber ein Ich, dass scheinbar nicht zum Leser spricht, sondern zu sich selbst, so als wäre die Geschichte eine erzählerische Beichte Deiner eigenen Leiden… Ich denke da z. B. an Hijo de Dios

Óscar Esquivias: Ich glaube, dass ich sehr geprägt bin von der katholischen Idee der Gewissensprüfung. Und außerdem habe ich, und zwar sehr jung, Freud gelesen und damit den Grund für die Selbstbetrachtung gelegt: Lange Zeit war mein Kopf eine Zweigstelle der Wiener Berggasse 19 und ich habe mich selbst höchst geschickt analysiert (ich habe auch die Träume meiner Schulkameraden gedeutet, und manch einer hat heute noch die Angewohnheit, mich danach zu fragen).

Übersetzung: Stefan Degenkolbe

Antwort: Ich habe den Titel wegen seines schönen Klangs gewählt, und weil ich seine Anspielung auf die Fröhlichkeit mag. Es ist sonderbar, aber bevor ich die Erzählung La Marca de Creta geschrieben habe, hatte ich gar nicht daran gedacht, eine Anthologie zusammenzustellen. Ich weiß nicht warum, aber ich spürte, dass diese Erzählung einen Wendepunkt darstellte, oder mich zumindest zum Nachdenken zwang: Ich bin daraufhin mein Werk der letzten fünfzehn Jahre durchgegangen und habe die Erzählungen ausgewählt, die mir am besten gefallen, die mich als Autor am besten darstellen, meine Art, die Welt zu sehen; es bildete sich ein Zyklus, der in seiner Einheit mehr war als eine schlichte Zusammenstellung von Texten. Und ich wollte diesem Buch von Anfang an den Titel La Marca de Creta geben, obwohl mir La fiesta más divertida (eine weitere der Erzählungen) auch gut gefallen hätte.

Frage: Wenn ich die Zusammenfassung von La Marca de Creta lese, kommt mir der Ausdruck »Fröhlichkeit« in den Sinn… Aber nachdem ich Deine Erzählungen noch einmal gelesen hatte, merkte ich, dass sich am deutlichsten die EINSAMKEIT zeigt… Ich meine die Erzählungen wie Maternidad oder Septiembre… In ihnen findet sich wenig Fröhlichkeit aber viele einsame Menschen, die verzweifelt einen Unterschlupf, Freundschaft, Liebe suchen… Freude findet sich nur in den vergänglichen Augenblicken, die das Buch durchziehen.

Antwort: Da hast Du recht. Neben der Einsamkeit ist es vielleicht die Kommunikationslosigkeit, die die Situation meiner Protagonisten am meisten bestimmt, viele von ihnen leben mit einem Partner, sind aber nicht fähig, ihren Gefühlen Ausdruck zu geben. Jedenfalls ist die Sehnsucht nach Glück eine untergründige Triebkraft, die alles bestimmt und die sie ihr Leben ertragen lässt.

Frage: In der Handlung mancher Deiner Erzählungen sind körperliche Schmerzen der Figuren ein Auslöser ihrer Taten, andererseits treiben pathologische Gefühlszustände das Geschehen voran (ich denke da z. B. an Miedo und den Fieberwahn des Protagonisten oder an Expedition in die Kavernen des koch’schen Bazillus und die Tuberkulose…). Wählst Du solche Krankheiten überlegt aus, um daran die Handlung aufzubauen und so von den Gefühlen der Menschen zu sprechen?

Antwort: Tatsächlich interessieren mich Krankheiten. Sie verändern unseren Charakter, unsere Erwartungen, unsere Empfindsamkeit, unsere Sicht der Welt. Wenn man in der Jugend eine ernsthafte Krankheit erleidet, wird man mit dem Tod nicht nur in einer theoretischen Weise konfrontiert. Das alles hat ein großes literarisches Potenzial, vorausgesetzt, dass man damit nicht effekthascherisch oder taktlos umgeht, versteht sich.

Frage: Deine Erzählungen sind so großartig, weil sie die Gefühle anrühren, weil Du tiefgründige Themen ansprichst (die Beziehung zwischen Eltern und Kindern, Jugendliebe, Familiengründung usw.), und zwar ausgehend von dem Persönlichen und Einzigartigen Deiner Figuren…

Antwort: Das ist die große Stärke der Literatur, vom Einzelnen ausgehend über das Universelle sprechen zu können. Grade die Figuren, die man oft für literarische Archetypen hält, haben eine besonders ausgeprägte Eigenständigkeit.

Frage: Du spielst in erzählerischer Weise auch mit der Figur dessen, der soeben erst angekommen ist… Mit Personen, die aus der Provinz fliehen, um ihr Gelobtes Land an anderen, scheinbar eher kosmopolitischen Orten zu finden… So z. B. in La fiesta más divertida und in vielen anderen Erzählungen… Wie viel Autobiografisches erzählen diese Geschichten von Óscar Esquivias?

Antwort: Ich wurde in Gamonal, einem Arbeiterviertel von Burgos geboren. Es war eigentlich ein Dorf, dem man ein Gewerbegebiet angegliedert hatte. Aufgewachsen bin ich in einer halb ländlichen (ich erinnere mich an die Weizenfelder, Schafherden, das Baden im Fluss und die Gärten), halb vorstädtischen Gegend (Müllhalden, Schornsteine, Fabrikhallen, Gleise, Kräne und Dampfwalzen). All die Leute waren von anderswo zum Arbeiten hergekommen (meinen Vater z. B. nannte sie »Cuenca«, weil er aus dieser Provinz stammte) und in der Schule war die erste Frage, die man uns stellte, aus welchem Dorf wir kämen, usw. Wenn wir von Gamonal nach Burgos fuhren, war das wie eine Reise in eine sehr elegante Stadt in einem anderen Land, in der es überall geschäftiges Treiben gab, Denkmäler, gepflegte Parkanlagen, edle Geschäfte. Einiges davon zeigt sich auch in meinen Erzählungen…

Frage: Als Autor setzt Du häufig auf einen sehr dominanten Icherzähler und auf kurze Sätze – wie Gedankenblitze… Ein Ich, das von seinen Handlungen und seinen Gefühlen erzählt, aber ein Ich, dass scheinbar nicht zum Leser spricht, sondern zu sich selbst, so als wäre die Geschichte eine erzählerische Beichte Deiner eigenen Leiden… Ich denke da z. B. an Hijo de Dios

Antwort: Ich glaube, dass ich sehr geprägt bin von der katholischen Idee der Gewissensprüfung. Und außerdem habe ich, und zwar sehr jung, Freud gelesen und damit den Grund für die Selbstbetrachtung gelegt: Lange Zeit war mein Kopf eine Zweigstelle der Wiener Berggasse 19 und ich habe mich selbst höchst geschickt analysiert (ich habe auch die Träume meiner Schulkameraden gedeutet, und manch einer hat heute noch die Angewohnheit, mich danach zu fragen).


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