
Wie kann eine gerechte Mobilitätspolitik aussehen, die der Notwendigkeit eines radikalen Wandels entspricht und dabei auch die Begehren und Ängste „normaler Leute“ ernst nimmt und abholt? Bevor Anna Baatz (Volksentscheid autofrei Berlin) und Kilian Jörg (Autor*in des Buchs „Das Auto und die ökologische Katastrophe“) diese Frage am 15. April um 20 Uhr in der Lettrétage diskutieren, kamen wir mit beiden ins Gespräch: Zwischen Utopien, Scheindebatten und einer autofreien Zukunft Berlins.

Kilian Jörg arbeitet künstlerisch und philosophisch zum Thema der ökologischen Katastrophe sowie der Frage, wie deren transformative Kräfte bestmöglich gedacht und eingesetzt werden können. Nach Veröffentlichungen u.a. zu Club- oder Abstandskultur widmet sich Jörg mit „Das Auto und die ökologische Katastrophe“ anhand der Metapher des Autos unserer toxischen Verwobenheit mit modernen Lebensweisen.
Von René Descartes über E-Scooter bis zum Dannenröder Forst: Mit „Das Auto und die ökologische Katastrophe“ hast Du ein umfangreiches Buch vorgelegt, das eine beeindruckende inhaltliche Tiefe und Breite aufweist. Wie sah der Schreibprozess der rund 350 Seiten aus?
Kilian Jörg: Ich würde sagen, es war ein rasanter Ritt. Teilweise habe ich mir während dem Schreiben ein anderes, abstrakteres Forschungsfeld gewünscht, weil man dem Auto ja wirklich kaum eine Stunde in einem normalem, modernen Alltag entgehen kann. Und wenn man sich den ganzen Tag mit Kritiken des autozentrierten Lebens beschäftigt, fallen einem andauernd und überall die strukturellen Ungerechtigkeiten auf, die man sonst ja eher übersieht oder verdrängt – schlicht, um einigermaßen als „vernünftig“ geltend überleben zu können. Aber dann gab es natürlich auch die vielen Höhenritte des Schreibens, wenn man eine These endlich gut aufgestellt hat oder über einen kleinen Witz im Text den ganzen restlichen Tag lacht.
Der Volksentscheid Berlin autofrei will große Teile der Hauptstadt von PKWs befreien. Im Lichte globaler ökologischer Katastrophen entwickelst du in deinem Buch gar die Utopie einer autofreien Welt. Warum brauchen wir solche Utopien? In welchem Verhältnis stehen sie zur Realität?
Kilian: Ich gehe ja von der These aus, dass fast jede Person in ihrem gegenwärtigen Leben auf die ein oder andere Art und Weise von der „Utopie der autofreien Welt“ geleitet ist. Jede Person, die aus der Großstadt zieht, tut dies auch, um den Autos und ihrem Lärm und Stress zu entgehen. Jeder Urlaub „in die Natur“ ist ähnlich motiviert. Nur die allerwenigsten wollen an einer lauten Straße leben. Die kleine Alltagswelt, die Freizeit und den Kleingarten, erleben ganz viele lieber als autofrei. Nur dass unter den aktuellen Bedingungen diese Sehnsucht nach autofreien Zonen halt sehr schlecht gemanaged ist – und oftmals zu mehr Verkehrsaufgebot führt, z.B. wenn Pendler wieder rein in die Stadt zum Arbeiten müssen.
Aus diesem Grund ist meine „Utopie autofreier Welten“ ein Denkangebot, darüber nachzudenken, wie man das Leben der Menschen anders gestalten müsste, damit diese Utopie für mehr Leute, mit besserer Umweltbilanz und mehr Komfort zugänglich wird. Diese Blickweise erlaubt mir, das Auto als zentrales Vehikel einer konsumkapitalistischen Lohnarbeitsgesellschaft zu verstehen – eine Utopie der autofreien Welt würde also ein radikales Umgestalten unserer Wirtschafts- und Arbeitsweisen mit sich bringen. Ich bin fest davon überzeugt, dass diese Welt eigentlich eine ist, die die allermeisten als schöner empfinden würden als die heutige. Denn die heutige Ordnung wird ja von den wenigsten als toll empfunden und zumeist nur aus einem verbitterten Realismus aus Mangel an Alternativen akzeptiert.
Die Klimadebatte der vergangenen Jahre stellt häufig klima- und menschenfreundliche Politik als zwei Gegenpole dar – Paradebeispiel: das Auto. Was sagt ihr denen, die behaupten, man müsse sich für eines entscheiden: Klima oder das gute Leben?
Kilian: Wie schon in der letzten Antwort geschildert, halte ich diese Gegenüberstellung für eine Scheindebatte, die zwar von reichweitenstarken Boulevardmedien wirksam und laut herausposaunt wird, de facto aber wenig mit der Wirklichkeit der Leben der Menschen zu tun hat. Klar, es gibt ein paar wenige Autofetischist*innen, die am liebsten in einer Umwelt von Benzinabgasgen und Motorenlärm leben (und diese soll man gerne Fetischzonen in meiner Utopie der autofreien Welt einrichten lassen, wie ich im Buch argumentiere!).
Doch das ist eine schwindende Minderheit und die meisten – wie Katja Diehl das wunderbar gezeigt hat – sagen aus, dass sie nicht autofahren wollen, sondern müssen. Die gesellschaftlichen Bedingungen zwingen sie dazu. Wenn man diese ändert, resultiert daraus nicht nur eine umweltfreundlichere Welt, sondern auch eine, die die allermeisten als besseres Leben empfinden werden. Dies sieht man schon an den flächenmäßig kleinen Beispielen, wo Straßen, Bezirke oder Städte verkehrsberuhigt wurden. Kaum jemand wünscht sich heute eine Mariahilferstraße (in Wien), ein Kopenhagen oder Paris mit mehr Autos zurück. Und das, obwohl viele – von den angesprochenen Boulevardmedien befeuert – vor der Reform absolut dagegen waren. Nachher entpuppt sich die hitzige Debatte aber eben als Scheindebatte, weil die bessere Lebensqualität umweltfreundlicher Lebenswelten dann einfach sinnlich erfahrbar ist – und also nicht mehr abzustreiten. Daran müssen wir immer mehr Leute sinnlich gewöhnen, denn rationale Argumente haben nur eine sehr eingeschränkte Effektivität. Die Erfahrung des besseren Lebens überzeugt viel besser!

Anna Baatz ist Sprecherin der Initiative Volksentscheid Berlin autofrei. Berlin autofrei zielt auf eine deutliche Autoreduktion ab und fordert ein gesundes, sicheres und klimaschonendes Berlin mit mehr Platz für alle. Auf 50.000 gesammelte Unterschriften in der ersten Unterschriftenphase 2021 folgte jahrelanges Warten und im April diesen Jahres schließlich eine Verhandlung am Berliner Verfassungsgericht. Bei positivem Entscheid kann die Initiative etwa im Spätsommer die zweite Unterschriftenphase starten.
Kilian Jörg widmet sich in seinem Buch der Utopie einer autofreien Welt. Berlin autofrei soll – innerhalb des Berliner S-Bahn Rings – aus Utopie Realität werden lassen. Was sagst Du Menschen, die euren Vorschlag als „zu utopisch“ abtun?
Anna Baatz: Lauft mal ganz bewusst durch eure Wohnstraße und nehmt alle parkenden und fahrenden Autos wahr. Wie wir Verkehr derzeit in Berlin organisieren, ist brutal: ungerechte Aufteilung des Raums, wahnsinnige Lärmbelastung und Gefahren für klein und groß. Ist es zu utopisch, in einer Stadt wohnen zu wollen,
…in der diejenigen, die aufs Auto angewiesen sind, mit diesem auch wirklich durchkommen?
…in der wir Straßen nicht für parkendes Blech, sondern für Nachbar*innen, Cafés und Bäume nutzen?
…in der sich auch meine Oma traut Rad zu fahren?
Nach einigen Jahren Stillstand fand am 2. April eine Anhörung am Berliner Verfassungsgerichtshof statt, deren Ausgang über die Zukunft des Verkehrsentscheids Berlin entscheiden könnte. Wie ist bei euch die Stimmungslage? Was nehmt ihr zurzeit in Gesprächen mit Bürger*innen zum Volksentscheid wahr?
Anna: Wir blicken der Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs optimistisch entgegen und planen bald in die zweite Unterschriftenphase zu starten, um anschließend unseren Volksentscheid einzuleiten. Viele Berliner*innen unterstützen die Vision einer Verkehrswende per Verkehrsentscheid und finden die grundlegende Idee unseres Gesetzentwurfs genial: Dieser sieht vor, dass innerhalb des S-Bahn-Rings Autos für die Zwecke eingesetzt werden, für die sie effizient sind, z.B. zum Transport schwerer Werkzeuge, Lebensmittel oder für Menschen mit Gehbehinderung. Die restlichen Mobilitätsbedarfe können wunderbar mit dem ÖPNV, Rad oder zu Fuß abgedeckt werden.
Auch an dich die Frage, Anna: Was sagst Du denen, die behaupten, man müsse sich für eines entscheiden: Klima oder das gute Leben?
Anna: Gerade Vorschläge zur urbanen Verkehrswende zeigen doch, dass wir mit der (im Kampf gegen die Klimakrise benötigten) Reduktion von Autos auch viel lebenswertere Städte bekommen. Ich kenne keine Berliner*in, die nicht sofort eine Idee hätte, was sie mit dem freiwerdenden Stadtraum gern machen würde. Ich hätte gern eine Bank vor meiner Tür, um mir mit meiner Nachbarin zusammen die Frühlingssonne ins Gesicht scheinen zu lassen.