#lettretalks: hochroth Verlag

Die hochroth-Jahreslesung im Januar ist zurück! In langer aber für drei Jahre pausierender Tradition präsentieren Autor*innen, Übersetzer*innen und Verleger*innen des hochroth Verlags am 18. Januar hier in der Lettrétage Publikationen der vergangenen Jahre. Zur Einstimmung haben wir einige Mitglieder des Verlagskollektivs zu ihrer Arbeit und den Besonderheiten des Verlagsprogramms interviewt.

1. hochroth ist ein Verlagskollektiv mit sechs eigenständigen Standorten. Wie genau funktioniert diese ungewöhnliche Verlagsform und wie ist sie entstanden? Was sind die besonderen Herausforderungen und Möglichkeiten dieser Art der Verlagsarbeit?

Vera Kurlenina (hochroth Berlin): Der Verlag ist 2008 entstanden, in der Zeit, als viele Publikumsverlage ihr Lyrikreihen eingestellt hatten und eine junge, unabhängige Verlagsszene im Entstehen war. Unser Gründer Marco Beckendorf hatte schon lange den Wunsch, Lyrikverleger zu werden, aber es fehlte ihm das Geld, um einen konventionellen Verlag mit Lager und Auslieferung zu gründen. Deshalb erfand er das hochroth-Modell: Die Bücher werden in Handarbeit hergestellt, die Auflagen sind der Nachfrage angepasst, der Verkauf lief am Anfang über Bauchladen in Kneipen in Berlin-Charlottenburg, später im Internet, auf Lesungen und über den Buchhandel. Bei hochroth finanziert jeder gedruckte Band den nächsten, und so konnten sich Marco und sein Mitverleger Christoph Beck den Traum erfüllen, ein ambitioniertes Lyrikprogramm zu verlegen, ohne dabei Pleite zu gehen.

Da der Verlag sich nur ehrenamtlich betreiben lässt, ist später die Idee entstanden, ihn auf breitere Füße zu stellen. Zuerst ist hochroth Leipzig entstanden, dann hochroth Wien, zwischendurch waren wir auch in Paris, Budapest und Riga vertreten. Mittlerweile gibt es die Standorte Berlin, Bielefeld, Heidelberg, Leipzig, Minsk (im Berliner Exil), München und Wiesenburg.
Wir teilen uns einige Strukturen – es gibt eine gemeinsame Webseite und einen gemeinsamen Stand auf der Leipziger Buchmesse, die ISBN-Nummern kaufen wir zusammen ein. Alle Standorte können die gesamte Backlist produzieren. Gerade in der Gründungsphase ist es für die neuen hochroth-Verlage sehr hilfreich, auf einen etablierten Namen und eine umfangreiche Backlist zurückgreifen zu können. Die Bücher haben ein markantes, einheitliches Design und einen hohen Wiedererkennungswert. Dabei ist jeder Standort in seiner Programmgestaltung unabhängig. In vielen organisatorischen Fragen sprechen wir uns aber ab und sind natürlich nicht immer einer Meinung. Aber insgesamt haben wir sehr gute Erfahrungen mit dieser kollektiven Verlagsform gemacht. Und heute, wenn Mittel für die freie Szene gekürzt werden, zahlt es sich für uns aus, dass wir von vornherein nicht auf Förderungen angewiesen sind.

2. Wie seid ihr jeweils zum hochroth Verlag gekommen und was zeichnet eure jeweiligen Verlagsstandorte schwerpunktmäßig aus?

Vera: Ich bin 2012 dazu gekommen. Damals hatte ich gerade mein Studium in Tübingen abgeschlossen und habe mit Peter Holland und ein paar Freund*innen hochroth Tübingen gegründet. Aber diese Gruppe gab es nicht lange, wir gingen damals beide aus beruflichen Gründen nach Berlin und haben uns hochroth Berlin angeschlossen. Marco ist mittlerweile Bürgermeister von Wiesenburg, einer Gemeinde in Brandenburg geworden und hat dort einen neuen hochroth-Standort gegründet. Seit 2017 leite ich hochroth Berlin. Unser Schwerpunkt sind Lyrikübersetzungen. Wir haben einige Übersetzungen aus dem Spanischen, Portugiesischen und Russischen veröffentlicht, aber auch aus anderen Sprachen. Es handelt sich sowohl um Klassiker, die in Deutschland noch wenig bekannt sind, als auch um zeitgenössische Dichterinnen und Dichter.

Florian Polkowski (ehem. hochroth Bielefeld): In Bielefeld haben wir 2016 mit unserer Arbeit bei hochroth begonnen. Wir sind damals über unsere Uni-Dozentin Johanna Domokos in Kontakt mit hochroth gekommen. Die wiederum ist gut mit Tzveta Sofronieva befreundet, die ein Jahr zuvor ihren Band „selected affordable studio apartments“ bei hochroth Berlin veröffentlich hat. Nach ersten Gesprächen mit Marco Beckendorf hat sich dann schnell eine kleine Gruppe von Studierenden gefunden, die Lust hatte sich bei hochroth einzubringen. Unsere ersten Texte waren in Übersetzungsseminaren an der Uni schnell gefunden: Es ging los mit Gedichten der samischen Autorin Inger-Mari Aikio. Weil von der anfänglichen Gruppe nur ich übriggeblieben bin, ist hochroth Bielefeld als Standort nur noch sehr eingeschränkt aktiv. Ich engagiere mich aber weiterhin mit organisatorischen Aufgaben für das gesamte Netzwerk.

Nach Bielefeld sind noch hochroth München (2027) mit einem Schwerpunkt deutschsprachiger Nachwuchsautor*innen und Debüts und hochroth Heidelberg (2018) mit Übersetzungen lateinamerikanischer und spanischer Dichter*innen entstanden. Und eben zuletzt hochroth Minsk als belarussischer Exilverlag.

Die Leipziger Gruppe besteht schon seit 2012 und legt ihren Schwerpunkt auf kurze Prosa sowie fremdsprachige Lyrik. In der Reihe „Edition OstroVers“ erscheint bspw. seit 2018 neue Lyrik aus Mittel- und Osteuropa.

3. Welchen Ratschlag würdet ihr (weniger etablierten) Lyriker*innen geben, die nach einer Möglichkeit suchen, ihre Texte zu publizieren?

Tim Holland (hochroth München): Da gibt‘s viele Möglichkeiten. Schlussendlich geht es darum, sich zu informieren, um dann mündige Entscheidungen treffen zu können. Zeitschriften bieten immer eine gute Gelegenheit, erste Publikationserfahrungen zu sammeln, gerade wenn man noch nicht so viele Texte hat. Wenn man sich die Programme der Verlage anschaut, bekommt man auch ein Gefühl, ob die eigene Stimme dort hinpasst oder nicht. Bei Lesebühnen und Veranstaltungen kann man schauen, wer da liest und wo die veröffentlichen – wäre das ein Rahmen auch für meine Texte? Viele Orte der Lyrik, Verlage und Publikationen sind in der Lyriklandschaft auf www.netzwerk-lyrik.org gelistet. Und natürlich während der Leipziger Buchmesse: Unsere Lyrikbuchhandlung! Es gibt kaum einen Ort, wo so viele Lyriker*innen und Verlagsleute mit ihren aktuellen Publikationen sind wie dort – und man kann alle einfach ansprechen. Aktuelle Infos immer kurz vor der Messe auf www.lyrikbuchhandlung.de.

4. Was sind für euch als Verleger die wichtigsten Kriterien für die Auswahl der Autor*innen?

Tim: Im ersten Moment wählen wir keine Autor*innen aus, sondern Texte. Da frage ich mich dann immer, was will der Text? Also, kann ich lesend nachvollziehen, wo er hin will und warum? Und kann ich eine Dringlichkeit im Text spüren? Vermittelt sich mir, warum das gerade raus muss und auch, warum in genau dieser Form und keiner anderen? Wenn der Text mich überzeugt, geht es auch darum: Sind wir eigentlich die Richtigen für diesen Text? Was braucht die Autor*in gerade? Wie viel soll / wie viel muss noch am Text gearbeitet werden? Welche Erwartungen gibt es und können wir das als Verlag leisten? Wenn der Text überzeugt, suchen wir das persönliche Gespräch mit den Autor*innen, da merkt man meist schnell, ob man gemeinsame Vorstellungen entwickeln kann.

5. Die traditionelle hochroth-Jahreslesung hat jetzt mehrere Jahre pausiert. Was hat sich in der Zwischenzeit im Verlag so getan, was waren eure Höhepunkte der letzten drei Jahre?

Vera: In der Corona-Zeit haben sich viele Veranstaltungen nach Draußen verlegt, so auch unser Verlagsfest, das wir zweimal im Sommer im schönen Garten der Novilla am Spreeufer veranstaltet haben.
Mein persönliches Highlight der letzten Zeit war die Gründung von hochroth Minsk 2023. Unser belarussischer Autor Dmitri Strozew, der nach den Protesten in Belarus von 2020–2021 ins Exil gehen musste, ist selbst Verleger geworden und veröffentlicht Lyrik belarussischer Autor*innen, die in ihrer Heimat nicht publizieren können. Sein Publikum ist vor allem die belarussische Exilcommunity, und das Interesse an den Büchern ist wirklich enorm. Aber es sind auch Übersetzungen ins Deutsche geplant. Am 18. Januar wird sich übrigens auch hochroth Minsk mit einer zweisprachigen Lesung von Viktar Žybul vorstellen.

Florian: Ein Highlight ist sicherlich die Auszeichnung mit dem Deutschen Verlagspreis 2024. Hinzu kam schon 2022 der sächsische Verlagspreis für hochroth Leipzig. Wir sind sehr stolz mit unserem ungewöhnlichen Projekt Teil einer so engagierten, vielfältigen Verlagsszene zu sein und innerhalb dieser Beachtung zu finden.

Außerdem hat „Handverlesen“, die erste Anthologie deutscher Gebärdensprachpoesie, seit 2023 für viel Aufsehen gesorgt. Der bei hochroth München erschienene Band schaffte es 2023 auf die Hotlist, wurde dort 3. im Publikumsvoting und erhielt den Dörlemann ZuSatz-Preis. Außerdem steht der Band auf der Liste von Bayerns Besten Independent-Büchern 2023 und ist Teil der Lyrikempfehlungen 2024.

6. Was für eine Textauswahl erwartet die Besucher*innen bei der Jahreslesung im Januar?

Tim: Wir wollen unterschiedliche Leute auf die Bühne bringen – Autor*innen, Herausgeber*innen, Übersetzer*innen und natürlich auch die Verleger*innen – und auch unsere textliche Vielfalt zeigen. Es geht uns darum Einblick zu geben und Lust auf Bücher machen. Ich stelle die Bände von Luca Kieser und Nora Zapf vor, die bereits erschienen sind, und Lea Schneider gibt einen Ausblick auf eine kommende Neuerscheinung, eine Anthologie, in der es um die (heimliche) Verbindung zwischen Schreibenden geht.

Vera: hochroth Berlin wird zwei Neuerscheinungen vorstellen. Die Übersetzerin Birgit Kirberg liest aus dem Band von Lucía Sánchez Saornil (1895–1970), den sie gemeinsam mit Christian Filips übersetzt hat. Lucía Sánchez Saornil war eine spanische Anarchistin und Feministin. Weniger bekannt ist in Deutschland ihre frühe Lyrik, die im Zeichen des spanischen Ultraísmo steht. Eine tolle Dichterin, die man nicht nur aus historischen Gründen lesen sollte. Und es werden Alexander Delphinov und seine Übersetzerin Irina Bondas performen. Delphinov ist unter den russischsprachigen Menschen in Berlin ziemlich bekannt, als Spoken-Word-Künstler, Dichter und Aktivist. „Smirnovs Ausnahmefall“ ist sein erster Gedichtband in deutscher Übersetzung.

Florian: Für hochroth Leipzig liest außerdem Autor Olav Amende aus seinem Langgedicht „Flurstück 3587/3588. Gedicht auf ein Haus„.

7. Auf welche hochroth-Neuerscheinungen dürfen wir uns im kommenden Jahr besonders freuen?

Geplant ist unter anderem ein heiß erwartetes Debüt bei hochroth München und ein Band mit dem etwas selteneren Genre der Kürzestgeschichten bei hochroth Heidelberg. Und in Leipzig, Heidelberg und München sollen im kommenden Jahr insgesamt gleich drei Anthologien erscheinen – was bei hochroth eher Seltenheitswert hat. Mehr verraten wir aber erstmal noch nicht – vielleicht gibt’s ja bei der Lesung am 18.01. mehr! 😉