Jahresrückblick 2022

„Gewaltig endet so das Jahr/ Mit goldnem Wein und Frucht der Gärten“, hätten wir – wie es sich in einem Literaturhaus gehört – vielleicht mit einem toten Dichter sagen können, ginge es allein um den Wein. Der wird von uns, und das nicht nur in einer Farbe, bei Veranstaltungen in der Veteranenstraße ausgeschenkt. Wir fliegen erst am Ende aus dem Vers, nachdem die Büros der Lettrétage in der Methfesselstraße seit Anfang des Jahres Geschichte sind – und damit auch die Quittenernte im dortigen Garten. Denn im Januar 2022 sind unsere Büros nach Schöneberg umgezogen, das in unseren Augen seinem Namen alle Ehre und den Abschiedsschmerz vergessen macht. Was von der Kreuzberger Villa neben vielen Erinnerungen und einer Hommage bleibt? Unter anderem dieses, mutmaßlich letzte Bild: ein einsamer Hund im verwaisten Salon und draußen tiefer Schnee.

Aber bevor Melancholie aufkommt, springen wir lieber in den Wonnemonat Mai, in dem unser Projekt BERLINCLUSIVE! startete. Auf Einladung der Lettrétage stellte sich ein Trio aus der freien Szene der kuratorischen Herausforderung, den Facettenreichtum von Berlins literarisch Kreativen und Affinen einzufangen und ins Rampenlicht zu rücken. Dabei ging es nicht nur darum, eine gemeinsame Vision diverser Literaturen zu feiern, sondern auch die Hürden in den Blick zu nehmen, die ihrer Verwirklichung im Wege stehen. Als Barrieren in diesem Sinne hat das Kurationsteam Alter, Gender und Digitalität identifiziert.

So ergründete Delphine de Stoutz zusammen mit Maïmouna Coulibaly, Saskia Nitsche und Jayrôme Robinet auf Deutsch und Französisch, was Schreiben unter postpatriarchalen Vorzeichen bedeuten kann. Ihre in einem Workshop gewonnenen Einsichten brachten die vier mit einer öffentlichen Performance zur Darstellung, wohingegen Alexander Lehnert Cornelia Becker und Miku Sophie Kühmel an zwei Abenden gewissermaßen in eine Zeitmaschine versetzte, um über das Alter(n) im Literaturbetrieb zu sprechen. Live auf der Bühne ließ die Maskenbildnerin Aisha King die Autorinnen ergrauen bzw. jünger werden, während Audrey Naline mit ihnen über Fragen wie diese diskutierte: Was ist Erfolg im Literaturbetrieb, und wie hängt das mit dem Alter zusammen? Bis wann „muss“ man „es“ geschafft haben, und was ist überhaupt „es“? Den Abschluss bildete eine zweitägige Konferenz zu Perspektiven digitaler Literatur, die sich zur Aufgabe gemacht hatte, zwischen deren konzeptuellen und instantanen Ausprägungen eine Brücke zu schlagen. Wie diese Spielarten zu fassen sind, hat uns die Planerin und Organisatorin der Konferenz, Christiane Frohmann, in einem Twitter-Interview erläutert. Unser Youtube-Kanal wirft darüber hinaus ein paar Schlaglichter auf die Diskussionen, die u. a. Elisa Aseva, Dana Cermane, Felicia Ewert, Lin Hierse, und Sibel Schick an einem Augustwochenende in der Lettrétage geführt haben:

Wer jetzt gedanklich schon im Herbst ist, wird hoffentlich nicht durch den folgenden Loop aus der Bahn geworfen: Am Ende des Sommers springt die Platte zurück zu dessen Anfang, weil sich parallel zu all dem noch etwas anderes ereignete. Nach mehrmonatiger Vorbereitung feierte unser Projekt The Poets‘ Sounds im Juni seine Premiere in Berlin, bevor es auf Tournee durch Deutschland, Österreich, Serbien, Finnland und Zypern ging. Das Ziel: die Grauzone zwischen Sprache und Musik zum Leuchten zu bringen. Sechs internationale Autorinnen und Autoren haben zu diesem Zweck jeweils ein sprechmusikalisches Stück für drei Stimmen geschrieben, die vom SprachKunstTrio sprechbohrer, bestehend aus Harald Muenz, Georg Sachse und Sigrid Sachse, interpretiert wurden. Zusammen mit dem Schriftsteller Florian Neuner bildeten sie die künstlerische Leitung des Projekts, dessen Grundlagen in drei intensiven Workshops gelegt wurden. Denn für Tone Avenstroup (Norwegen), Eduard Escoffet (Spanien/Katalonien), Katalin Ladik (Ungarn), Morten Søndergaard (Dänemark), Miia Toivio (Finnland) und Elisabeth Wandeler-Deck (Schweiz) bedeutete es zum überwiegenden Teil etwas gänzlich Neues, ein dreistimmiges Stück zu schreiben und dafür eine Notation zu finden. Gerade diese Herausforderung machte allerdings künstlerische Innovation möglich. Wie das klingt? In der Mediathek des Deutschlandfunks sind nicht nur der Sound, sondern auch Lesungen der Beteiligten zu erleben.

(c) Sina Lynn Sachse

Wäre das vom Angebot her alles gewesen, hätte es in der Veteranenstraße allerdings die meiste Zeit über ziemlich trostlos ausgesehen. Doch zum Glück gibt es die freie Szene in Berlin, die mit ihren Vorschlägen und Ideen dem Raum dort Leben eingehaucht hat. Dafür wollen wir an dieser Stelle aus ganzem Herzen Danke sagen! 2022 war nicht zuletzt ein Jahr der Veranstaltungsreihen: Die Berliner Salonage von Isobel Markus, Die Bunte Kuh, Die unsichtbare Stadt des Kollektivs WIESE, KOOKread, Let’s Talk About Class und Soul and the City sorgten mit unterschiedlichen Themen und internationalen Gästen regelmäßig für Abwechslung. Ganz zu schweigen von den klassischen Lesungen, Soloauftritten und einmaligen Perfomances, die alle zu erwähnen den Rahmen sprengen würde. Deshalb seien hier stellvertretend für das Gesamtprogramm zwei Abende genannt, an denen wir wiederum an die Grenzen unserer Zuschauerkapazitäten gestoßen sind: bei den (Berlin-)Premieren von Rebecca Rukeysers The Seaplane on Final Approach und Finn Jobs Hinterher.

Die Möglichkeit, solche Grenzen auszuloten, ist dabei nicht selbstverständlich. Sie wird erst durch unsere Partnerinstitutionen eröffnet: Dem ACUD danken wir für die gute (und sich fortsetzende) Zusammenarbeit in Raumfragen, der Berliner Senatsverwaltung für Kultur und Europa sowie der PSD Bank für ihre finanzielle Unterstützung, der Kulturstiftung des Bundes und der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien für die großzügige Förderung von The Poets’ Sounds.

Nach so viel ästhetischem Gehalt hat das Thema Software-Umstellung, das uns am Ende dieses Jahres beschäftigt(e), naturgemäß keinen leichten Stand. Dass wir fortan im Arbeitsalltag auf Open-Source-Produkte setzen wollen, ist allerdings für uns nur der Auftakt zum längerfristigen Nachdenken über die Frage, wie eine digitale Ankerinstitution in Zukunft aussehen könnte. Nachhaltigkeit und Sicherheit sind in diesem Zusammenhang nur zwei Aspekte von vielen, die uns am Herzen liegen. Wie schon beim technischen Umstellungsprozess vertrauen wir dabei auf die fachmännische Begleitung durch den Lyrikverleger und IT-Experten Micha Ebert-Hanke.

2023 wird also ein spannendes Jahr für uns. Gerade auch wegen der Impulse aus der freien Szene, die jetzt schon ein volles literarisches Programm bis weit ins kommende Frühjahr garantieren. Doch zunächst wird erst einmal durchgeschnauft. Wir wünschen allseits frohe Feste und einen guten Rutsch, auf dass wir uns alle im nächsten Jahr in der Lettrétage wiedersehen!