„Als literarischer Übersetzer muss man eigentlich lebenslang versuchen, die Veränderungen in der schwedischen Sprache aufzusaugen“ – Interview mit Paul Berf

(c) Susanne Fern

Schwedenkrimis sind hierzulande die Köttbullar der Literatur. Die einen wie anderen dominieren die Vorstellung davon, was in dem skandinavischen Königreich gelesen und gegessen wird. So weit das Klischee. Dank der Unterstützung der Schwedischen Botschaft in Berlin und des Swedish Literature Exchange/Swedish Art Council in Stockholm bietet sich am 1. Februar in der Lettrétage die Möglichkeit, das eigene Schwedenbild zu erweitern. Unter dem Titel BÜCHER VON HIPSTERN, HIPPIES UND HEDONISTEN? werden an diesem Abend Agnes Lidbeck, Ulf Karl Olov Nilsson und Tone Schunnesson den Facettenreichtum der schwedischen Gegenwartsliteratur vor Augen führen. Dass das deutsche Publikum die drei kennen lernen kann, geht zu einem maßgeblichen Teil auf das Konto des Übersetzers Paul Berf, der ebenfalls mit von der Partie sein wird. Er hat uns freundlicherweise schon vorab Rede und Antwort gestanden.

Lettrétage: Die Veranstaltung bei uns in der Lettrétage basiert auf einem Sonderband der Zeitschrift die horen, den Sie zusammen mit der Autorin Aase Berg herausgegeben haben. Er bietet auf stolzen 224 Seiten einen Überblick über die neueste schwedische Gegenwartsliteratur. Welche Auswahlkriterien lagen dieser Zusammenstellung zugrunde?

Paul Berf: Es ging uns darum, die Vielfalt der schwedischen Gegenwartsliteratur am Beispiel von Autor:innen zu dokumentieren, die in Deutschland entweder völlig unbekannt sind oder bei Weitem nicht die Aufmerksamkeit bekommen haben, die sie verdient hätten. Die meisten Autor:innen erscheinen somit zum ersten Mal auf Deutsch. Ausnahmslos alle Texte sind vorher noch nie auf Deutsch erschienen. Darüber hinaus haben wir nach Texten und Autor:innen gesucht, die in den Gattungen erzählende Prosa, Lyrik und Essay unterschiedliche Lebenswelten darstellen und formal und/oder inhaltlich neue Wege in der schwedischen Literatur beschreiten, abseits der Genres (Krimi, Unterhaltung, Kinder- und Jugendbuch), die viele in erster Linie mit schwedischer Literatur verbinden.

Lettrétage: Welche Tendenzen, welche Schwerpunkte beobachten Sie in der schwedischen Gegenwartsliteratur?

Paul Berf: Auf den ersten Blick könnte man meinen, dass es keine solchen Tendenzen und Schwerpunkte gibt, weil die pluralistische Gesellschaft mit ihren vielen verschiedenen Lebensentwürfen eben auch sehr unterschiedliche literarische Entwürfe hervorbringt, aber ein zentraler Themenkomplex ist sicherlich die Auseinandersetzung mit Fragen der Identität und der Rollen, die der Einzelne in verschiedenen sozialen Zusammenhängen innehat. Es geht um die sexuelle Identität, um Geschlechterrollen, um schwedische Identität mit Migrationshintergrund, um den alltäglichen Rassismus, den people of colour oder auch jüdische Schweden erfahren. So untersucht Agnes Lidbeck, auf welche Rollen Frauen in der bürgerlichen Mittelschicht festgelegt werden und sich fatalerweise auch festlegen lassen. So untersucht Tone Schunnesson, was es heißt, wenn die Rolle als Influencerin zu einzigen Identität und zu einer Falle geworden ist usw.

Lettrétage: Inwiefern verändern die jüngsten literarischen Entwicklungen Ihre Arbeit als Übersetzer? Oder muss man sich das eher als ein „business as usual“ vorstellen?

Paul Berf: Mit neuen Identitäten und formalen Ansätzen verändert sich auch die Sprache. Die Umgangssprache jüngerer Autor:innen ist stark von den Social Media, von einem speziellen Slang geprägt, und in der Lyrik macht sich der Einfluss von Rap und Popkultur bemerkbar. Aber in gewisser Weise ist dies tatsächlich auch „business as usual“, denn Sprache verändert sich ständig und unaufhaltsam, so dass man als literarischer Übersetzer eigentlich lebenslang versuchen muss, die Veränderungen in der schwedischen Sprache aufzusaugen, die sich dann auch in der schwedischen Literatur niederschlagen. Das heißt aber auch, dass man genauso die Veränderungen der deutschen Sprache wahrnehmen und bedenken muss, um die schwedischen Texte adäquat transferieren zu können.

Lettrétage: Was erwartet das Publikum bei Bücher von Hipstern, Hippies und Hedonisten?

Paul Berf: Das Publikum wird drei hochspannende schwedische Autor:innen erleben, die in Deutschland völlig zu Unrecht noch unbekannt sind. Agnes Lidbeck, übersetzt von Therese Korritter, untersucht in ihren Romanen die Beziehungen zwischen den Geschlechtern, aber auch innerhalb von bürgerlichen Familien und zeigt dabei, wie schnell diese Beziehungen einengen und zu einer Falle werden. Das macht sie mit einer glasklaren und analytischen Sprache. Tone Schunnesson, übersetzt von Hanna Granz, beschäftigt sich mit dem Lebensgefühl einer Generation junger Schwed:innen, die scheinbar alle Freiheiten und Möglichkeiten besitzt, aber gleichzeitig von einem Gefühl der Leere geprägt ist. Dafür findet sie in höchst unterhaltsamen Texten zwischen Tragödie und Komödie treffende Szenen, die auch drastisch sein können. Ulf Karl Olov Nilsson, übersetzt von mir, Psychoanalytiker und Essayist, lotet in seinen Essays die Bedingungen des menschlichen Daseins an der Schnittstelle zwischen eigener Erfahrung, Psychoanalyse und Literatur aus, zum Beispiel in einem langen labyrinthischen Essay über die menschliche Stimme oder auch, wenn er  die Frage untersucht, ob Demenz den Menschen zu einer anderen Version seiner selbst oder zu einem anderen Menschen macht. Brillant und immer überraschend.

Ich freue mich sehr auf die Gespräche dieser drei Autor:innen, die sie  mit Thomas Böhm, über ihre Werke, ihre Vorstellungen von Literatur und die schwedische Literatur führen werden.