„Wir sind alle wie Watzlawicks Betrunkener, der nachts den Haustürschlüssel unter der Laterne sucht“ – Interview mit Max Haarich über das Potential der Paradoxie

(c) Eolo Perfido

Am 19. Oktober geben Max Haarich von der Užupis-Universität und der Verleger Arkadi Junold Einblick in EXPLORE THE UNTHINKABLE, einen Sammelband zum Symposium für angewandte Paradoxie. Wir haben mit Max Haarich über die Künstlerrepublik Užupis, das Institut für angewandte Paradoxie, das rationale und das paradoxe Denken sowie das Potential der Paradoxie gesprochen.

Max Haarich, Sie sind Direktor des Instituts für angewandte Paradoxie an der Universität der Künstlerrepublik Užupis. Was zeichnet diese Republik aus? Und worin besteht die Aufgabe des Instituts? 

Užupis ist eine selbsternannte unabhängige Künstlerrepublik und eine lebendiges Beispiel für die radikale Kraft neuer Ideen. Die Republik wurde 1997 im gleichnamigen Stadtteil der litauischen Hauptstadt Vilnius gegründet, der seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion von Gewalt und Elend dominiert war. Die Einwohner:innen, darunter zahlreiche Künstler:innen und Kunststudierende, suchten Rettung für sich selbst und ihren Stadtteil. Statt nach mehr Polizeischutz und härteren Gesetze durch den Staat zu verlangen, machten sie sich selbst zum Staat und gingen den genau entgegengesetzten Weg: Sie formulierten eine eigene Verfassung, die nicht logisch und verbindlich war, sondern liebevoll, humorvoll und paradox – bis zu dem Punkt, wo die Verfassung die Missachtung der Verfassung erlaubt. Die neuen Regeln sollten eben nicht als Handlungs-Checkliste dienen, sondern eher als Inspiration, um eigenverantwortlich sein Leben zu gestalten. Diese völlig neue Sichtweise führte zum Erfolg und transformierte Užupis vom Schandfleck der Hauptstadt zum beliebtesten Wohngebiet des Baltikums.

Wenn das wirklich so einfach funktioniert, dass man einfach alle Regeln ausheben muss, damit die Leute Rücksicht aufeinander nehmen, warum machen wir das dann nicht noch viel öfter? Eine möglicher Grund könnte darin liegen, dass diese Lösung einfach nicht logisch ist. Die Lösung ist paradox und widerspricht dem Großteil unserer Erfahrung und Konditionierung. In unzähligen Alltagssituationen versichern wir uns gegenseitig täglich, dass wir nur dann vernünftig als Gesellschaft funktionieren, wenn es ganz klare Regeln gibt und ein Verstoß mit harten Strafen belegt ist. Und sollte diese Lösung des Verbietens und Bestrafens einmal nicht zum Erfolg führen, dann muss eben noch härter verboten und bestraft werden. Diese Argumentation passt perfekt in unseren rationalen Denkraum, der geprägt ist von Logik, Exaktheit und Konsistenz. In diesem Denkraum ist „Mehr-hilft-mehr“ ein perfekt sinnvoller Lösungsansatz. In diesen Denkraum passt dann aber auch kein Užupis. Der Ansatz von Užupis, „Gar-nichts-hilft-am-meisten“, klingt in diesem Denkraum wie das Dümmste, was man machen kann. Der Ansatz von Užupis passt dann eher in einen paradoxen Denkraum, der mit Widersprüchlichkeit und Ambiguität operiert.

Sie haben einen Sammelband herausgeben, der den Anspruch erhebt, das Undenkbare zu erkunden. Der Ankündigungstext zur Vorstellung des Bandes spricht dabei von zwei Arten des Denkens: dem rationalen und paradoxen. Wäre es denkbar, den Unterschied zwischen diesen beiden Arten knapp zu umreißen?

Seit Jahrhunderten folgen wir dem rationalen Denken im kartesianischen Stil. Dieses Denken hat unseren Verstand in ein hocheffizientes Werkzeug verwandelt, mit dem wir alles analysieren, optimieren und ausnutzen können – aber irgendwie zwingt es uns auch dazu. Gefangen in unserem rationalen Denkraum, gehen wir die größten Probleme der Menschheitsgeschichte mit denselben alten Reflexen an, die uns nur noch näher an den Abgrund bringen: Es gibt z. B. Menschen, die den Klimawandel ernsthaft auch als wirtschaftlich verwertbare „Geschäftsmöglichkeit“ sehen. Das ist pervers, aber es ist auch logisch – zumindest im kartesianischen Paradigma des Denkens. Dennoch ist dieses kartesianische rationale Denken so allgegenwärtig, dass wir uns kaum eine andere Art, um Probleme zu lösen, ausmalen können. Immer häufiger findet sich unsere Gesellschaft in Dilemmata wieder, aus denen wir uns mit unserer binär-logischen Denkweise nicht mehr befreien können. Wachstum vs. Nachhaltigkeit, Sicherheit vs. Überwachung, Meinungsfreiheit vs. Rechtspopulismus sind nur einige Beispiele für solche Dilemmata, die typisch sind für viele moderne Industriegesellschaften.

Ein neues Denken muss her. Aber wie? Wie will man auf eine Art und Weise denken, auf die man nicht gedacht hat? Wie will man feststellen, wenn man das tatsächlich schafft? Wie will man bewerten, ob eine neues Denken sinnvoll ist? Und wäre „sinnvoll“ auch im neuen Denken noch erstrebenswert? Es ist als würden wir versuchen, ein neues Brettspiel ohne Anleitung zu spielen. Wir haben keine Ahnung, wie ein guter Spielzug aussieht. Aber wenn wir lange genug spielen, können wir es herausfinden. Paradoxie könnte eine Möglichkeit sein, unseren Denkraum zu erweitern. Vielleicht ist es nur eine Illusion, aber die Paradoxie scheint nicht an die Regel der Logik gebunden, sie folgt womöglich eigenen Regeln oder vielleicht auch gar keinen. In jedem Fall hat sie die Republik Užupis erlaubt, Lösungen zu finden, die das logische Denken verbietet. Dieser Sammelband ist der Versuch herauszufinden, ob das bloß Zufall war oder ob wir mit Hilfe der Paradoxie systematisch aus dem logischen Denken ausbrechen können. 

Die in dem Band versammelten Beiträge beschreiben „das Potential der Paradoxie in allen Lebensbereichen“. Können Sie an einem Beispiel aus dem Buch erläutern, wie solch eine Beschreibung aussieht? 

Ein Beispiel wäre unsere Wahrnehmung von Geschlechtern. In unserer dominanten rationalen Logik, geprägt von Kontrasten wie wahr vs. falsch oder schwarz und weiß, haben wir das Geschlecht in den meisten Sprachen als binäre und trennscharfe Kategorie erfunden. Wir kennen aber mittlerweile genug Menschen, die nicht in die Logik der zwei beschränkten Kategorien passen. Das führt jedoch nicht dazu, dass wir die Logik verwerfen. Stattdessen fügen wir der Logik einfache weitere Kategorien für alle uneindeutigen Fälle hinzu. Und weil es sich dabei auch um sehr unterschiedliche „Abweichungen“ von den Prototypen Mann und Frau handelt, erfinden wir dort auch immer weitere Unterkategorien des Diversseins. Im Endeffekt führt dieses Anpassen und Ausdifferenzieren unseres Geschlechtskonstrukts nicht dazu, Mauern einzureißen, sondern neue Kategoriemauern hochzuziehen. Einen gedanklichen Ausweg aus der bisherigen Binarität bietet möglicherweise die Quantenphysik und insbesondere ihre Anwendung in der Informatik, die uns Quantenphysiker Ulf Hengstmann in seinem Beitrag vorstellt. In der Quantenlogik ist es völlig normal, dass ein und dasselbe Element verschiedene Zustände haben kann; nacheinander oder auch gleichzeitig. Während in binären Rechnern jedes Symbol entweder eindeutig 0 oder 1 sein muss, können Quantencomputer u. a. auch mit Elementen arbeiten, die gleichzeitig 0 und 1 sind. Schroedingers Katze kann gleichzeitig tot und lebendig sein. Vielleicht kann sie auch gleichzeitig Männchen und Weibchen sein, oder keins von beiden? Komplementär dazu befasst sich die Künstlerin Rebecca Merlic in ihrem Artikel mit der binären Geschlechterauffassung im Kontext der Glitch-Bewegung. Glitchkunst arbeitet mit der visuellen und konzeptuellen Verzerrung von Bildern und Ideen. Es geht um die Auflösung und Ablehnung von prototypischen Geschlechterbildern zu Gunsten unauflösbarer Vielfalt. Ihr digitales Kunstwerk GLITCHBODIES spielt ganz gezielt mit dieser durch Verzerrung erreichbaren Einheit des Unterschiedlichen, wo eine Gruppe Menschen in unterschiedlichsten Posen wie zu einem Glaskunstwerk verschmolzen wirken.

Und welches Potential sehen Sie in der Paradoxie?

Wir sind alle wie Watzlawicks Betrunkener, der nachts den Haustürschlüssel unter der Laterne sucht. Er sucht ihn dort, nicht weil er ihn dort verloren hat, sondern weil er ihn überall sonst im Dunkel gar nicht finden könnte. Genauso bleiben wir bei jeder noch so großen Herausforderung brav im Licht der Logik sitzen. Für manche Probleme gibt es vielleicht gar keine logische Lösung oder die logische Lösung könnte sogar schädlich sein. Paradoxie kann diesen Denk- und Handlungsraum erweitern und manchmal führt vielleicht eine paradoxe Lösung zum Ziel. Die Herausforderung besteht darin, dass wir noch keine Bewertungskriterien für paradoxe Ideen haben. Wir bewerten alle Ideen immer logisch, sodass paradoxe Ideen immer unsinnig erscheinen. Wir benötigen sozusagen ein völlig anderes Betriebssystem, um paradoxe Ideen verarbeiten zu können. Dieses Buch soll erste Denkanstöße dazu geben.  

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