„Es sind Stimmen von vor 600 Jahren, die da zu uns und mit uns sprechen“ – Interview mit Margarete Zimmermann und Britta Jürgs

Margarete Zimmermann (c) privat; Britta Jürgs (c) Klara Emilia Kajdi

Christine de Pizan gilt als erste europäische Autorin, die von ihrem Schreiben leben konnte. Pünktlich zur ersten bundesweiten Feministischen Buchwoche im Mai 2023 ist im AvivA Verlag eine erweiterte und aktualisierte Neuausgabe ihres bekanntesten Werks erschienen. Pizans BUCH VON DER STADT DER FRAUEN baut im Jahr 1405 einen literarischen Zufluchtsort aus Geschichten bemerkenswerter Frauen und stellt sich gewandt wie gewitzt den frauenfeindlichen Auswüchsen ihrer Zeit. Über 600 Jahre sind seitdem vergangen, doch über misogyne Klischees, Gewalt gegen Frauen und ihren erschwerten Zugang zu Bildung und politischer Teilhabe wird noch immer diskutiert. Am 11. Mai sprechen Herausgeberin und Übersetzerin Margarete Zimmermann und Verlegerin Britta Jürgs in der Lettrétage über ein Buch, das gleichermaßen alt wie aktuell ist. Welche Perspektiven ein so überraschend moderner Klassiker eröffnen kann und inwieweit der heutige Blick dabei auch an Grenzen stößt, haben wir sie vorab in einem Interview gefragt.

Lettrétage: Was macht DAS BUCH VON DER STADT DER FRAUEN in Ihren Augen so besonders, was zeichnet es aus?

Margarete Zimmermann: Es ist die erste ebenso amüsante wie hochgelehrte Antwort einer Frau auf die Flut frauenfeindlicher Anwürfe und „hate speech“ (J. Butler), die um 1400 geradezu Konjunktur haben und in die spätmittelalterlichen Bibliotheken geflutet (und auch gern gelesen) wird. Zugleich ist DAS BUCH VON DER STADT DER FRAUEN eine literarische Streitschrift ersten Ranges, was ihre Komplexität, Fundiertheit und Verve angeht. Sie ist ein Meilenstein innerhalb der Geschichte der europäischen „Querelle des Femmes“, jenes großen europäischen Geschlechterstreits in Bild und Text, der in der Frühen Neuzeit einen ersten Höhepunkt erreicht und sich bis ins 19. Jahrhundert, unter Umständen sogar bis in unsere Gegenwart reicht. Außerdem setzt sich mit Christine de Pizan in diesem Buch zum ersten Mal in der europäischen Literatur sehr selbstbewusst eine Autorin und „BücherFrau“ in Szene.

In Europa müssen wir bis 1949 und Simone de Beauvoirs LE DEUXIÈME SEXE (DAS ANDERE GESCHLECHT) warten, bevor sich eine Autorin erneut so kompetent und umfassend zu frauenfeindlichen Denkweisen äußert. Die „Stadt der Frauen“ hat zudem zu einem Perspektivenwechsel in der Geschichtsschreibung und zu einer Revision der Kanonbildung in verschiedenen Disziplinen angeregt.

Britta Jürgs: Besonders ist natürlich zunächst einmal, dass DAS BUCH VON DER STADT DER FRAUEN überhaupt existiert. Dass es 1405 verfasst wurde von einer Schriftstellerin, die die erste uns bekannte Autorin ist, die vom Schreiben leben konnte. Das Buch zeichnet sich dadurch aus, dass es eine so kluge wie witzige Auseinandersetzung mit den frauenfeindlichen Aussagen von Christine de Pizans Zeitgenossen ist, und dass es sich mit auch heute noch aktuellen auseinandersetzt, wie beispielsweise Gewalt gegen Frauen oder deren erschwerten Zugang zur Bildung. Und dann ist es auch noch ein Kompendium von Geschichten über vorbildhafte Frauen und ein beeindruckendes Beispiel früher feministischer Literaturkritik.

Lettrétage: Gab es einen konkreten Anlass für die erweiterte und aktualisierte Neuauflage? Was kam dazu, was ist überarbeitet worden?

Margarete Zimmermann: DAS BUCH VON DER STADT DER FRAUEN ist seit seiner Erstausgabe im Berliner Orlanda-Verlag und seiner Lizenzausgabe bei dtv seit langem vergriffen – und ich wurde immer wieder auf diese missliche Situation hingewiesen und gefragt, wann es denn endlich eine Neuausgabe gäbe. Außerdem zeigten Anfragen aus den verschiedensten Bereichen – von Theaterleuten, Tänzer:innen, Komponist:innen, Philosoph:innen, Journalist:innen und natürlich von Kolleg:innen aus der Universität, die mit diesem Werk arbeiten wollten –, dass ein ungebrochen starkes Interesse an dieser großen europäischen Autorin bestand – und dass niemand verstand, weshalb ihr berühmtestes Werk nicht mehr (oder nur noch antiquarisch) erhältlich war.

Hinzu kamen interessante aktuelle Aneignungen und Interpretationen von Autorin und Werk, wie zum Beispiel 2010 durch Stefania Sandrellis italienisches Biopic CHRISTINE CRISTINA, 2015 durch die Vertonung ihrer Gedichte durch das Ensemble VocaMe oder 2018 mit dem Bild von Christine und ihrer Stadt der Frauen auf einer Häuserwand in Turin, gemalt von der römischen Street Art-Künstlerin Camilla Falsini.

Ich selbst habe den ‚Kontakt zu Christine de Pizan‘ nie abgebrochen, sie niemals aus den Augen verloren und werde oft zu Vorträgen über diese große Autorin und ihr Werk eingeladen. Ich dachte auch immer wieder daran, bei diversen Verlagen wegen einer Neuauflage anzufragen, hatte aber zugleich wenig Lust, in Sachen Christine de Pizan ‚hausieren‘ zu gehen – und mir womöglich lauter höfliche Ablehnungen einzuheimsen.

Als ich über einen Verlag nachdachte, fielen mir natürlich sofort Britta Jürgs und AvivA ein. Beide kenne und schätze ich seit langem. Aber ich befürchtete, Christine de Pizan und ihre „Stadt der Frauen“ würden nicht in das Verlagsprogramm passen. Um so mehr habe ich mich über Britta Jürgs‘ Anfrage gefreut und sofort zugesagt!

Ich habe mich dann – im Unterschied zu meinen französischen Kolleg:innen – dagegen entschieden, die ursprüngliche Übersetzung mit ihrem Vorwort einfach nachdrucken zu lassen, sondern habe im vergangenen Sommer und in einem bretonischen Garten zunächst meine Übersetzung mit ‚neuen Augen‘ wieder gelesen und einiges gekürzt oder umformuliert. Ich wollte jedoch – wie schon in der ursprünglichen Fassung – diesem Text im Deutschen nicht seine Alterität, sein grundsätzliches ‚Anders-Sein‘ nehmen, denn diese macht ja gerade seinen Reiz aus: Es sind Stimmen von vor 600 Jahren, die da zu uns und mit uns sprechen – und die uns immer noch, sogar in unseren gegenwärtigen Lebenssituationen, ansprechen.

Völlig neu ist dagegen mein Nachwort – zum einen deshalb, weil ich mich nicht gern wiederhole, zum andern, weil wir in dem Zeitraum zwischen meiner ‚alten‘ und der jetzigen Übersetzung unendlich viel Neues über diese Autorin, über ihre Werke und deren Entstehung erfahren haben. Denn zu keinem anderen Autor des Mittelalters und zu keiner anderen Autorin dieser Zeit wird international so viel geforscht wie zu ihr, mit vielen neuen und interessanten Fragen.

Britta Jürgs: Ich war schon lange der Ansicht, dass dieses wichtige Buch endlich wieder verfügbar sein müsste. Als ich 2021 die Werke einer Autorin des 17. Jahrhunderts veröffentlichte, Aphra Behn, und mich damit im Verlagsprogramm deutlich weiter zurück in die Geschichte vorwagte, und die BücherFrauen zudem zur gleichen Zeit ihren 2021 erstmals ausgelobten Literaturpreis nach Christine de Pizan benannten, schien mir die Zeit gekommen, diese Klassikerin der Weltliteratur im AvivA Verlag zu veröffentlichen. Als ich Margarete Zimmermann fragte, ob sie sich eine Neuausgabe vorstellen könnte, kam umgehend ein begeistertes „Ja!“. Vorbemerkung und Nachwort sind neu verfasst, die Übersetzung selbst wurde für diese Ausgabe überarbeitet.

Lettrétage: Erklärtes Ziel und Anlass der Feministischen Buchwoche 2023 ist es, dem männlich dominierten Literatur- und Rezensionsbetrieb mit der gezielten Sichtbarmachung von Autorinnen etwas entgegenzusetzen. Diese Forderung wird auch dort immer lauter, wo der sogenannte literarische Kanon im Kontext von Schule und Universität kritisch diskutiert wird. Welche Rolle könnte Pizans STADT DER FRAUEN in dieser Diskussion und im Lehrplan einnehmen, welche Antworten gibt sie?

Britta Jürgs: Christine de Pizan sollte als wichtige Schriftstellerin und Philosophin natürlich auch hierzulande Teil des Lehrplans sein, zumal in ihrem „Buch von der Stadt der Frauen“ zahlreiche Fragen behandelt werden, die uns auch heute noch beschäftigen.

Margarete Zimmermann: Christine de Pizan und ihre „Stadt der Frauen“ sind mittlerweile in einigen deutschsprachigen Schulbüchern präsent, und in der universitären Lehre wird diese Autorin immer wichtiger. Auch in Standardwerken wie Literaturgeschichten und Nachschlagewerken wie philosophischen Lexika ist sie zunehmend präsent, doch es gibt noch viel zu tun auf der Ebene von Vermittlungsinstanzen wie der Lehre oder dem Verlagswesen.

Immerhin stelle ich aus meiner eigenen Perspektive große Fortschritte fest, und habe mich zum Beispiel sehr gefreut, dass 2024 eine große Ringvorlesung an der Uni Konstanz zu „Schlüsselszenen der französischsprachigen Literatur“ stattfindet, die mit Christine de Pizan beginnen wird.

Um die Auseinandersetzung mit ihr auch im deutschen Sprachraum zu verstärken, müssten jedoch mehr Texte übersetzt werden, unter anderem ein Teil der L’AVISION CHRISTINE (CHRISTINES VISION), in dem es detaillierte Informationen zu ihrem familiären Hintergrund und ihrem Werdegang gibt und den ich für AvivA übersetzen werde. Diese autobiografischen Elemente sind absolut einzigartig innerhalb der Literatur ihrer Zeit und auch lange danach, weshalb ein französischer Kollege Christine de Pizan einmal treffend als „die erste Autorpersönlichkeit der französischen Literatur“ bezeichnet hat.

Allerdings sollten wir ihr Werk nicht nur auf dessen zuweilen wirklich verblüffende Aktualität und Nähe zu uns befragen, sondern Christine de Pizan mit historischem Wissen lesen, um uns auf ihre Epoche einzulassen, diese faszinierende Epoche kurz vor der Zeitenwende des Buchdrucks, auf eine Zeit der Krisen – Pest, Krieg als Dauerzustand, Revolten –, der Melancholie und zugleich der „rage de vivre“, einer „Lebenswut“ und der Lust an extravaganter Mode und raffinierter Erotik. Auf der anderen Seite der Gesellschaft: Armut, Abhängigkeiten der schlimmsten Art, Unterdrückung. All dies findet sich auch bei Christine de Pizan, die zugleich eine Beobachterin der zeitgenössischen Gesellschaft ist und versucht, mit ihren Schriften politisch auf die Mächtigen ihrer Zeit einzuwirken und den Frieden herbeizuführen.

Lettrétage: Gibt es auch Passagen, die heutigen feministischen
Vorstellungen zuwiderlaufen? Sie vielleicht sogar in Frage stellen?

Britta Jürgs: Der Text von Christine de Pizan weist erstaunlich viele aktuelle Facetten auf. Die Betonung beispielsweise der Tugendhaftigkeit der Frauen scheint heutigen feministischen Vorstellungen nicht zu entsprechen, doch ist diese Forderung im historischen Kontext zu sehen und nicht mit dem zu vergleichen, was wir uns heute unter Tugendhaftigkeit vorstellen.

Margarete Zimmermann: Ich finde diese Frage problematisch. Zunächst einmal: Was sind „heutige feministische Vorstellungen“, gibt es diese überhaupt in einer leicht zu definierenden Form – angesichts der Fülle von Feminismen in der westlichen Welt? Und dann: Müssen wir alles, was vor uns war, an unseren Vorstellungen von 2023 messen, ohne zu historisieren, ohne uns zu fragen, was in einer bestimmten Epoche überhaupt möglich sein kann – und dann zu sehen, wie eine Frau wie Christine dieses Grenzen auslotet, wie weit sie innerhalb dieser Grenzen gehen kann – und welche Überschreitungen bestenfalls möglich sind?

Mit der ‚Tugend‘ ist es auch so eine Sache: Unsere Vorstellungen von ihr sind von Tugenddiskursen des 18. und 19. Jahrhunderts geprägt, während das Tugendverständnis der franko-italienischen Autorin Christine de Pizan auf den antiken bzw. stoischen Tugendbegriff zurückgeht. Dieser bedeutet, vereinfacht formuliert, Stärke und Widerstandskraft, Unbeugsamkeit und Integrität oder „Harmonie auf den Ebenen des Selbst, der Menschheit und des Universums“. Und das ist etwas grundsätzlich anderes als die „tugendhafte“ Hausfrau oder Jungfrau, die sich spätestens seit dem 19. Jahrhundert in unseren Köpfen eingenistet hat.

Ähnliches gilt für ihre Warnung vor ‚freier‘ Sexualität, die eine Frau im Mittelalter gar nicht ausleben kann, ohne ihr Leben oder zumindest eine harte Bestrafung zu riskieren. Wenn Christine den Frauen ihrer Zeit deshalb rät, auf eine solche „fole amour“ („närrische/verrückte Liebe“) zu verzichten, so ist dies kein von Prüderie, sondern von Lebensklugheit bestimmter Rat an die Frauen ihrer Zeit. Wenn wir außerdem bedenken, wie tabuisiert und zum Teil strafrechtlich verfolgt Empfängnisverhütung und Abtreibung in Westeuropa noch um 1960 waren – siehe hierzu jüngst Annie Ernaux und ihr Buch DAS EREIGNIS – dann sind Christine de Pizans Ratschläge in dieser Hinsicht alles andere als antiquiert und ‚mittelalterlich‘.

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