„Klassismus war für mich sehr prägend in meinem Heranwachsen und begleitet mich zum Teil noch heute.“ – Interview mit Katharina Warda von „Let’s Talk About Class“

Ab Herbst 2022 ist die Lettrétage Gastgeberin von „Let’s Talk About Class“ – einer Diskussionsreihe zum Begriff der Klasse und seinen unterschiedlichen theoretischen wie praktischen Verflechtungen: „Deutschland ist“, so die Ausgangsbeobachtung, „eine Klassengesellschaft, die so tut, als wäre sie keine. Das macht sie besonders undurchlässig. Darüber zu reden, wie soziale Herkunft Lebenswege bestimmt, ist fast ein Tabu. Diese Scham wollen wir überwinden: Die Lese-Performance-Gesprächsreihe „Let’s Talk About Class“ bahnt Wege aus dem Klassenkrampf.“

Jede Veranstaltung der Reihe widmet sich dabei einer anderen Frage des Klassenbegriffs. Nach dem Auftakt zur Klassenfrage Transition am 14. September mit Felicia EwertFrede Macioszek und dem Trans*Inter*Queer Community & Health Center Casa Kuà geht es am 28. September um Ostdeutsche Klassenerzählungen: Paula Fürstenberg und Katharina Warda, zwei der Kuratorinnen des Projekts, werden den Abend moderieren und mit Angelika Nguyen, Katja Oskamp und Francis Seeck u. a. über Abwertungserfahrungen im Zuge der Wiedervereinigung, Statusverluste sowie Lohn- und Vermögensungleichheiten zwischen Ost und West sprechen. Katharina Warda war so freundlich, uns im Vorfeld zu den Ideen und Hintergründe von „Let’s Talk About Class“ Rede und Antwort zu stehen:

Lettrétage: Was hat es mit „Let’s Talk About Class“ auf sich? Welche Ideen stecken dahinter, welche Ziele? Und was oder wen möchte das Projekt erreichen?

Katharina Warda:Let’s Talk About Class” ist eine sechsteilige Gesprächsreihe zu sozialer Herkunft, Klassenunterschieden und sozio-ökonomischer Benachteiligung. An drei Abenden diskutieren die Kurator:innen Biba Nass und Charlotte Milsch mit geladenen Gäst:innen aus Kunst, Kultur und Politik, soziale Herkunft aus queeren Perspektiven. Sie fragen nach den Verschränkungen von Klassismus, Queerfeindlichkeit und Rassismus, die sich u. a. in Form von ungleicher Ressourcenverteilung und erschwerten Zugängen zeigen, sowohl im bestehenden Gesundheitssystem als auch im Kontext von Film und Fernsehen, bei gleichzeitiger reichhaltiger Wissens- und Kulturproduktion queerer Communitys.

An den anderen drei Abenden sprechen Paula Fürstenberg und ich mit geladenen Gäst:innen über Klasse im Kontext von DDR, Wende und Ostdeutschland. Wir diskutieren strukturelle Unterschiede, die im Zuge der Wiedervereinigung zwischen Ost und West entstanden. Wir stellen Erzählungen vom “braunen Osten” und Ostdeutschen als Bürger:innen zweiter Klasse auf den Prüfstand und sprechen über “Asozialität” in der DDR und klassistische Kontinuitäten. Damit reihen sich die sechs Abende in die aktuell lebhaft geführte Debatte um die deutsche Klassengesellschaft ein. Öffentlich bisher nur wenig besprochene Themen kommen hier aus intersektionalen Perspektiven auf die Bühne und von dort aus zurück in die Gesellschaft.

Lettrétage: Bei „Let’s Talk About Class“ geht es in erster Linie um Klassismus und seine verschiedenen Formen. Was ist Deine Meinung zu diesem Begriff und dem Umstand, den er beschreibt?

Katharina Warda: Klassismus beschreibt die Diskriminierung aufgrund der sozialen Herkunft bzw. der aktuellen sozio-ökomischen Position. Diese Diskriminierung läuft quer durch die Gesellschaft von unten nach oben und richtet sich vornehmlich gegen Angehörige einer vermeintlich “niederen Klasse”. Vor allem Menschen in Armut oder/und Nicht-Erwerbstätige sind von Klassismus betroffen und erleben aufgrund der Diskriminierung in vielen Situationen eine zusätzliche Benachteiligung, zum Beispiel in Ressourcenfragen. Beispiel dafür sind unterschiedliche Zugänge zu Bildung und Gesundheit. Aber auch im Kleinen zeigt sich Klassismus, zum Beispiel in Vorurteilen: Wenn dir auf der Schule aufgrund der ökonomischen Situation deiner Eltern und ihrer Berufe, aufgrund deiner Kleidung und deiner sprachlichen Ausdrucksweise pauschal unterstellt wird, dümmer zu sein und du aufgrund dessen tendenziell schlechter benotet wirst. Klassismus kommt zudem selten allein. Je nach Person kann er in Intersektion mit anderen Diskriminierungsarten oder Abwertungserfahrungen einhergehen. An dieser Stelle setzt unsere Gesprächsreihe an und widmet sich Fragen um Klassismus aus queerer und ostdeutscher Perspektive.

Lettrétage: Du beteiligst Dich als Kuratorin an „Let’s Talk About Class“. Wie wichtig ist Deiner Ansicht nach diese Diskussionsreihe?

Katharina Warda: Sehr wichtig, sonst wäre ich nicht dabei. Klassismus war für mich sehr prägend in meinem Heranwachsen und begleitet mich zum Teil noch heute. Zum Beispiel sage ich immer: Ich habe dreimal deutsch sprechen gelernt: Einmal als Muttersprache. Einmal dialektfrei, wegen des Ossibashings in den 1990ern. Und einmal an der Uni, damit ich nicht mehr so spreche wie “die Assis aus dem Fernsehen”, wie es mir damals attestiert wurde. Heute bin ich dahingehend angepasst und führe ein bürgerliches Leben. Ich merke aber immer wieder, wie sehr es mir nach wie vor an familiären Ressourcen fehlt und wie stark mich Angst und Scham, die damit einhergehen, begleiten. Im Rahmen unserer Gesprächsreihe über solche Prozesse und Erfahrungen mit betroffenen Künstler:innen, Aktivist:innen und anderen Expert:innen zu diskutieren und dieses Wissen ins öffentliche Bewusstsein zu bringen, ist wichtig. Das in unserem Zuschnitt, Klassismus jeweils im Kontext von Ostdeutschland bzw. Queerness, zu besprechen nochmal mehr.

Prekäres Arbeiten und Leben ist aber auch mit queeren Lebensrealitäten eng verknüpft. Queere Personen, vor allem trans* und nicht binäre* Menschen, erleben Diskriminierungen nicht nur im familiären Kontext, wodurch ökonomisches, durch Erbe weitergegebenes Kapital wegfällt; sie erfahren sie auch in Behörden, Bildungs- und Kultureinrichtungen. Diese (re)produzierten Ausschlüsse führen zu prekären Arbeits- und Lebensbedingungen, die sich wiederum in der psychischen Gesundheit widerspiegeln. Daneben sind viele queere Menschen auch physischer Gewalt ausgesetzt. Beides wirkt sich wiederum auf die eigene Arbeitskraft und Möglichkeiten auf dem Arbeitsmarkt aus. Gesprochen wird darüber in öffentlichen Debatten um Queerness, vor allem in Mehrheitsmedien, kaum. Auch in queeren und trans* Organisationen sind Personen aus der Mittelklasse sehr dominant, und Fragen von Klassismus und sozialer Gerechtigkeit werden noch selten auf die Agenda gesetzt. Und was den Kulturbereich angeht: Was in den Mainstream darf und was nicht, ist viel zu oft noch abhängig von Performance, Habitus, hetero- und cis-normativen sowie weißen Vorstellungen von Queerness. Genau darüber soll an den Abenden zum Thema “Queerness und Class” gesprochen werden.

Ostdeutsche Perspektiven werden seit der Wiedervereinigung stark unter klassistischen Aspekten besprochen. Fernseh-Witzfiguren wie Cindy aus Marzahn und Sachsen-Paule generierten ihre Lacher über soziale Abwertungen. Das hat mich als Ostdeutsche im Heranwachsen genauso geprägt wie die tatsächliche Armut meiner Eltern und strukturelle Ressourcenunterschiede unter Ostdeutschen. Gleichzeitig sind ostdeutsche Erfahrungen hinsichtlich Klassismus sehr verschieden und können nicht als homogener Brei besprochen werden, wie das bisher zumeist geschieht. Ich freue mich, zusammen mit Paula Fürstenberg über drei Gesprächsrunden und verstärkt durch Expert:innen einmal gründlich Klassismus und ostdeutsche Erzählungen auf den Prüfstand stellen zu können und einen wichtigen Beitrag zu aktuellen Debatten rund um den Osten leisten können.

Lettrétage: Was lässt sich im Allgemeinen tun, um Klassismus vorzubeugen?

Katharina Warda: Erst einmal ist es wichtig, überhaupt davon zu wissen. Klassismus ist eine Form der Diskriminierung, über die bisher nur wenig im öffentlichen Diskurs gesprochen wurde. Das ändert sich allmählich, steht aber noch ganz am Anfang. Unbesprochen erscheinen uns klassistische Abwertungen als ganz normal und werden kaum reflektiert. Genau da muss man als Einzelne*r ansetzen, sich bilden und auch aktiv eingreifen, wenn man einen klassistischen Vorfall beobachtet. Zum Beispiel, wenn jemand Menschen in einer moralisch fehlgeleiteten Situation als “Assis” oder “Prolls” beschimpft, steckt dahinter eine klassistische Abwertung mit langer Vorgeschichte. Das zu hinterfragen und offen anzusprechen, kann schon einen Unterschied machen. Auch das eigene Privileg hinsichtlich der eigenen sozialen Herkunft und Position zu hinterfragen und eine inklusivere Sprache zu verwenden, können wichtige Schritte sein, um weniger Klassismen zu reproduzieren. Jenseits der individuellen Ebene läuft Klassismus aber auch über Strukturen ab. Wer jenseits der eigenen Bubble etwas tun möchte, kann zum Beispiel Arbeitslosen-Selbstorganisationen oder Sprecher:innen im Bereich Klassismus ideell und durch Ressourcen unterstützen.

Lettrétage: Am 28. September geht es unter Deiner Moderation um den Klassenunterschied zwischen „Ost- und Westdeutschland“. Kannst Du uns ein bisschen mehr darüber erzählen? Wie äußert sich zum Beispiel der Unterschied zwischen Ost und West im Allgemeinen?

Katharina Warda: Vor über 30 Jahren begannen die Wende-Demonstrationen, die Mauer wurde geöffnet und Deutschland vereinigte sich wieder. Das brachte viel Euphorie auf ostdeutscher Seite mit sich, schlug aber bei vielen auch schnell in Frustration und zum Teil Aggression um. Damals die Massenarbeitslosigkeit, Treuhand, ungleiche Vermögensregelungen. – Heute strukturelle Lohnunterschiede, keine Erbschaften und jahrelange Abwertungeserfahrungen. Eine Mischung, durch die sich viele Ostdeutsche bis heute als Bürger:innen zweiter Klasse fühlen. Hinzu kommen Aspekte wie Rassismus und rechte Gewalt, die Teil einer ostdeutschen Erzählung und für viele gelebte Realität waren und sind. Kurzum, es gibt viel zu sagen, aufzuarbeiten und transparent zu machen, wenn es um Klassismus im Kontext Ostdeutschland geht. Darum geht es auch in unserer ersten Ost-Veranstaltung am 28. September. Zusammen mit Angelika Nguyen, Katja Oskamp und Francis Seeck sprechen wir darüber, was Klassismus ist und wie er sich für verschiedene Lebensrealitäten im Osten äußert. Gleichzeitig debattieren wir mediale und vornehmlich westdeutsch geprägte Erzählungen, die Ostdeutsche jahrelang über klassistische Aspekte, wie angeblich dümmliches Auftreten, “Assi”-Mode und Plattenbau präsentiert haben, sowie deren Konsequenzen bis heute.

Los geht es mit den Gastspiel unserer Reihe in der Lettrétage allerdings schon am 14. September mit einem Abend, an dem es um die gesundheitliche Versorgung von trans, inter, nichtbinären* und queeren* Personen geht, und wie stark das bestehende Gesundheitssystem von Klassismus, Rassismus und Queerfeindlichkeit geprägt ist. Den Fokus haben wir auf das Thema Transition gelegt und das bevorstehende Selbstbestimmungsgesetz. Wo Zugänge und Ressourcen fehlen, wird es queeren Menschen besonders schwer gemacht, die Möglichkeiten der Transition wahrzunehmen und angemessen und wertschätzend versorgt zu werden. Eine wichtige Stimme zum Thema Transfeindlichkeit und Transmisogynie ist Felicia Ewert (“Trans. Frau. Sein.”), die gemeinsam mit Frede Macioszek (“Klassenfahrt”) und Tzoa, eine:r Referent:in des Queer Community & Health Center Casa Kuà, über die Verschränkungen verschiedener Diskriminierungsformen im bestehenden System spricht und darüber, wie medizinische und juristische Selbstversorgung aussehen können.

Lettrétage: Vielen lieben Dank Dir!

„Let’s Talk About Class“ findet in Kooperation mit der Lettrétage und dem ACUD MACHT NEU statt und wird von der Senatsverwaltung für Kultur und Europa gefördert.