Dr. Lothar Quinkenstein im Interview über „Die Zimtläden“ von Bruno Schulz

Am 4. November besucht uns der Lesezyklus Lektury – mit einem musikalisch-literarischen Abend über Bruno Schulz. Im Anschluss an die Lesung ist eine Diskussionsrunde zu Schulz‘ Erzählband Die Zimtläden geplant, an der neben der Literaturwissenschaftlerin Prof.  Brygida Helbig auch der Autor, Übersetzer und Literaturwissenschaftler Dr. Lothar Quinkenstein teilnehmen wird. Wir haben ihm im Vorhinein ein paar Fragen gestellt:

Die Erzählungen Die Zimtläden von Bruno Schulz erschienen 1934 in den politischen Wirren des frühen 20. Jahrhunderts in Polen. 1961 erschien die erste deutsche Übersetzung von Joseph Hahn. 2008 folgte eine Neuübersetzung von Doreen Daume. Warum ist das Werk von Schulz heute noch modern und aktuell?

LQ: Das Werk von Schulz ist zeitlos, in jeder Hinsicht universal. Ich weiß nicht, ob man einen zweiten europäischen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts fände, der in so einzigartiger und vor allem in so konsequenter Form dem Rätsel der Existenz nachgespürt hat wie er. Wobei die Singularität nicht in diesem oder jenem philosophischen Ansatz besteht – das Philosophische gibt es sozusagen gratis dazu, und oft genug unter der Hand –, sondern in der unerhörten Melodie. Diese Erzählungen haben ja kaum Handlung im herkömmlichen Sinne. Was Schulz der Leserin und dem Leser bietet, sind Meditationen. Momente einer mystisch-luziden Versenkung in die Wirklichkeit. „Man könnte sagen, dass die Welt durch deine Hände gegangen ist, um sich zu erneuern“, sagt Szloma zur Erzählerfigur Józef in der „Genialen Epoche“, im Sanatorium-Zyklus, der die Gedankenfäden der Zimtläden aufgreift und weiterspinnt. Eben dieses Gefühl begleitet die Schulz-Lektüre – dass sich die Welt in diesen Erzählungen erneuert, etwas wiedergewinnt von dem verlorenen Glanz der „messianischen Zeiten“, wie Schulz das Potential seiner Imagination bezeichnet hat. Insofern finden wir in den Geschichten auch so gut wie nichts, was uns unmittelbar auf die „politischen Wirren des frühen 20. Jahrhunderts“ verweisen würde. Das heißt aber nicht, dass seine Prosa sich einem Eskapismus verschrieben hätte. Der polnische Priester, Philosoph und Literaturwissenschaftler Alfred Marek Wierzbicki spricht vom „antitotalitären“ Charakter dieses Werks. Diese Prosa hat kein Zentrum, keine Hierarchie – jeder Versuch, sie ideologisch in Dienst zu nehmen, wäre von vornherein zum Scheitern verurteilt. Schulz führt uns auf jeder Seite vor, dass das Rätsel der Existenz mit Herrschaftsansprüchen nicht zu lösen ist.

Ein Wort noch zu den Übersetzungen: Als die Neuübersetzung von Doreen Daume erschien, hieß es in den Rezensionen mehrfach, nun hätten wir – endlich – den „definitiven“ Schulz. Ich würde gerne an dieser Stelle eine Lanze brechen für die erste Übersetzung von Joseph Hahn. Sie bot immerhin für über vierzig Jahre den einzigen deutschsprachigen Zugang zu Schulz. Beide Übersetzungen haben ihre Berechtigung, ihre Stärken und Schwächen, ich glaube nicht, dass es ergiebig ist, die eine gegen die andere auszuspielen.

Häufig heißt es, Schulz verbinde eine stilistische Nähe mit Texten von Kafka. Bestätigen Sie diesen Eindruck?

LQ:  Dieses Etikett – dass Schulz der polnische Kafka sei – ist geläufig. Aber so griffig es klingt – ich glaube, man tut weder Schulz noch Kafka einen Gefallen damit. Beide wurden in Österreich-Ungarn geboren, waren also Landsleute, beide wuchsen in assimilierten jüdischen Familien auf, beide Väter betrieben ein Geschäft, zudem in ähnlichen Branchen – aber damit enden die Gemeinsamkeiten auch schon. Ihre ästhetischen Konzepte sind grundverschieden. Kafka nennt in einem seiner aphoristischen Sätze die sinnliche Welt „das Böse in der geistigen“, die Schönheit seiner Prosa liegt in einer mitunter geradezu asketischen Strenge. Für Schulz war die sinnliche Welt eine Quelle unendlichen Staunens, seine Prosa quillt ständig über, sie lebt, von den Kapricen einer Materie, in der eine unbändige Energie pulsiert. Die „Maskerade der Substanz“, „Windbeutelei“, „Panironie“, „die närrisch herausgestreckte Zunge“ – das sind Wendungen, mit denen Schulz in einem Brief an Witkacy (Stanisław Ignacy Witkiewicz) seine Poetik charakterisiert. In der ersten Erzählung der Zimtläden – „August“ – kommt das Dienstmädchen Adela mit Einkäufen vom Markt zurück, und in zwei, drei Sätzen haben wir die Schöpfungsgeschichte auf dem Küchentisch. In diesem Blick auf die sinnliche Welt, auf Kreatürliches und vor allem auch in der Darstellung der Erotik liegen zwischen Schulz und Kafka Welten. In einem Aspekt allerdings kommen sie sich dann doch wieder nahe – bei beiden ist das literarische Werk durchdrungen vom jüdischen Denken, der jüdischen Geistesgeschichte, ohne dass es in expliziten Verweisen zum Ausdruck käme. Hier wie dort steht es zwischen den Zeilen – bei Kafka in der Prosa, das müsste man betonen, denn im Tagebuch spricht er an vielen Stellen ausführlich vom Judentum. Doch die Art der Umsetzung dieser Impulse und Inspirationen ist wiederum sehr unterschiedlich. Beide haben auf jeweils individuelle Weise ihre Literatur geschaffen – Schulz als Schulz, und Kafka als Kafka.

Was haben Sie von Bruno Schulz und den Zimtläden für Ihr eigenes Arbeiten und Schreiben gelernt? Was reizt Sie besonders an den Texten?

LQ:  Wesentlich bei der Lektüre von Schulz war für mich vor allem ein neuer Blick auf die deutsche Romantik.  Meine Auseinandersetzung mit diesen Konzepten ist auf der einen Seite von Heine inspiriert und auf der anderen von Schulz. Hier sind wir wieder beim Stichwort des Antitotalitären. Die deutsche Romantik enthält etliche durchaus heikle Momente, etwa in der Sakralisierung der Natur oder in der Gegenüberstellung von Künstler und Philister. Bei Schulz gibt es keine abgehobenen Künstlerfiguren, die kraft ihres „Genies“ in Kontakt treten mit höheren Sphären. Seine „höhere Sphäre“ ist überall – die Existenz an sich. „Reif werden zur Kindheit“ – so hat er sein Programm in einem Brief auf den Punkt gebracht. Das klingt völlig anders als das oft recht fragwürdige Spiel der deutschen Romantik mit vorgeblicher Naivität, was dann zumeist in einen ebenso fragwürdigen Duktus regressiver Utopie mündet. In meinem Roman Tellurium spielt die Auseinandersetzung mit Ideen der deutschen Romantik eine Rolle, ohne die Schulz-Lektüre hätte ich diesen Roman sicher anders geschrieben. Möglicherweise auch nicht geschrieben. Das Bedürfnis, diese Auseinandersetzung zu führen, entsprang vor allem der Beschäftigung mit Schulz. Auch viele andere meiner Texte verdanken ihre Entstehung letztlich Schulz, weil er für mich immer wieder zum Ausgangspunkt wird für Erkundungen in dem Kulturraum, in dem er gelebt hat. Über Schulz bin ich zu Debora Vogel gelangt, zu Jiři Mordechai Langer. Über Schulz bin ich zu Jerzy Ficowski gekommen, zu Abraham Joshua Heschel. Was interpretatorische Zugänge betrifft, so habe ich Władysław Panas am meisten zu verdanken, der Schulz als Kabbalisten der Moderne liest. Hier betreten wir einen ganzen Kontinent – die jüdische Kultur Mitteleuropas.

Es sind die „Dichter und Denker“ gewesen, die diese Kultur nahezu vollständig vernichtet haben. Auch das ist Teil der Schulz-Lektüre, Teil der Beschäftigung mit seiner Biographie, der Landschaft, in der er gelebt hat – Gedenken. Unsere heutige Wirklichkeit ist ein Zustand danach. Ein Europa nach der „Wannsee-Konferenz“, nach der „Aktion Reinhardt“. Ein Europa, in dem so entsetzlich viel fehlt. Ich fürchte, dass das leicht übersehen wird. Der Krieg ging im Mai 1945 zu Ende – und die Zerstörung ist geblieben, Mitteleuropa war eine Landschaft der Massengräber. Es ist unmöglich, Schulz zu lesen und diese Zusammenhänge nicht mitzudenken.

Um noch einmal auf die Prosa zurückzukommen. Das Faszinierende ist die Struktur seiner Metaphorik. Die Metaphern, die auf den ersten Blick oft surreal erscheinen mögen, sind nichts Anderes als präzise. Er hat nicht die Oberfläche der Erscheinungen beschrieben, er ist in die Tiefe gedrungen, hat die Ströme abgebildet, die im Nervensystem der Welt fließen. Das ist die eigentliche „Handlung“ seiner Prosa. Seine erste Protagonistin ist die Sprache: „Kurzschlüsse des Sinns zwischen den Worten“ – als „Regenerationen der ursprünglichen Mythen“.

Die aktuelle national-konservative Regierung in Polen stößt einige kulturpolitische Veränderungen an, die zu Unruhen und Besorgnis unter Kulturschaffenden führt. Wie bewerten Sie die Lage?

LQ: Darüber ist in den letzten drei Jahren viel geschrieben worden, und Grund zur Beunruhigung gibt es genug. Schulz ist auch nicht mehr Teil der obligatorischen Lektüre in den Schulen, er ist jetzt fakultativ. Aber ich möchte an dieser Stelle nicht wiederholen, was so oft schon dargestellt wurde, ich möchte etwas Anderes hervorheben. Es gibt in Polen Initiativen, die eine bewundernswerte Arbeit leisten, und das seit Jahrzehnten. Wenn wir etwa an Brama Grodzka Teatr NN in Lublin denken, oder an Pogranicze in Sejny. Dort leben die Ideen des alten Mitteleuropa weiter und werden mit unermüdlicher Energie umgesetzt – in Bücher, in Lesungen, in Konzerte, in Theater, in performative Erinnerung. Die Wege, die von dort aus begangen werden, führen in die Ukraine, nach Belarus, nach Litauen. Es wäre wichtig, sich diesen Kulturaustausch vor Augen zu führen, diesen Geschichten zuzuhören. Nicht im Sinne einer Beschwichtigung, sondern im Sinne eines Potenzials, von dem eine Menge zu lernen ist. In dieser Hinsicht besitzt gerade das Werk von Schulz immense Bedeutung. Das Denken Isaak Lurias, des großen jüdischen Mystikers des 16. Jahrhunderts, die Theorien von Sigmund Freud – all diese Echos fließen in seiner Prosa zusammen. Ich wüsste kein besseres Antidotum gegen Ideologien.

Zu der Veranstaltung am 04. November 2018 um 20:00 Uhr geht es hier entlang!