
Der Oktober in der Lettrétage schlägt einen Bogen von der Ostsee übers Mittelmeer bis ins „Reich des Vergessens“ – und mit dem Undenkbaren sogar noch darüber hinaus. Doch zum Auftakt steht erst einmal eine Gesangseinlage auf dem Spiel:
„Wo de Möven schriegen grell in´t Stormgebrus,/ dor is mine Heimat, dor bün ick to Hus“, verspricht Klaus Ungerer am 5. Oktober anzustimmen, aber nur, so seine Bedingung, „wenn der Abend besonders gut verläuft“. Der Abend, das ist der SALON SCHELF: AUF DER SUCHE NACH DEM VERLORENEN LAND. Diesem Land nähert sich Ungerer mit MEIN LÜBECK an, einem Porträt seiner Heimatstadt. Was es laut Lübecker Nachrichten auszeichnet, ist eine „liebevolle[] Zugewandtheit, die trotzdem genau hinsieht und von gefühliger Duselei wenig hält“. Ungerer steht dabei seine Ururgroßmutter Therese Deecke zur Seite, deren lange übersehenen Lebenserinnerungen MEIN FRÜHREIFES HERZ die Hansestadt um 1850 beschreiben: lieblich, selbstgenügsam und gut ummauert. Darf man gerne daran zurückdenken? Ist, wenn man deutsch ist, Heimatliebe irgendwie möglich? Um Fragen wie diese wird es im begleitenden Gespräch mit Moderator Mladen Gladic gehen.
Was es heißt, sich über einen längeren Zeitraum mit den für Jobcentern einschlägigen Textgattungen rumzuschlagen, mit Anträgen, Formularen und Bewerbungen, davon können die zwei langzeitarbeitslosen Theaterwissenschaftler Thomas Döring und Jens Momsen wiederum ein Lied singen. In einer szenischen Lesung am 13. Oktober führen die beiden HART AUF HARTZ auf, das mit kleinen Kurzgeschichten, Dialogen sowie Gereimt- und Ungereimtheiten das Paralleluniversum namens Jobcenter durchmisst.
Am 15. Oktober geht es darum, wie man Tauben Autor:innen ein Zuhause im Literaturbetrieb bieten kann. Im Workshop ZEICHEN SETZEN. PERSPEKTIVEN TAUB-HÖRENDER ZUSAMMENARBEIT IM LITERATURBETRIEB denken Anna Hetzer, Jan Kress, Alexander Lehnert, Swantje Marks, Aurélie Maurin, Dawei Ni, Delphine De Stoutz, Laura Levita Valyte und Isabel Wanger drei Tage lang zum einem darüber nach, was zu beachten ist, wenn Veranstalter:innen Taube Autor:innen einladen: Wie funktioniert etwa eine Taube PR? Wie gestaltet sich der Übersetzungsprozess lautsprachlicher Literatur in DGS und umgekehrt? Und zum anderen stellt sich die Frage, wo Taube Autor:innen am Literaturbetrieb andocken können und was konkret für solche Kooperationen notwendig ist. An diesem Abend präsentieren sie ihre Ergebnisse der Öffentlichkeit und stellen sich der Diskussion.
WARUM BERLIN (und nicht etwas Lübeck)? Diese Frage hat Birgit Schmalmack 52 Weltberliner:innen gestellt. Auf ausgedehnten Stadtspaziergängen hat sie ganz unterschiedliche Menschen getroffen, die ihr berichtet haben, wie sie die Spreemetropole erleben. Am 18. Oktober können Neugierige erfahren, ob sich in Berlin tatsächlich die Welt ausprobiert. Neben den aktuellen Diskursen, wie z. B. über Berlins People of Colour, Queerness oder Teilhabe, wechseln sich in den Gesprächen Erfolgsgeschichten mit anderen Erzählungen ab. Die gesammelten Eindrück spiegeln auch die Entwicklung Berlins von einem maroden Abenteuerspielplatz der Kreativen zu einer Metropole, die wie alle anderen ihrer Größenordnung den Weg der Gentrifizierung einzuschlagen scheint. Im zweiten Teil des Abends wird Birgit Schmalmack zusammen mit dem Musiker Nate Bernardini und dem Leiter des English Theatre Daniel Brunet die aktuelle Situation in Berlin und die Zukunft einer internationalen Künstler:innenszene in Deutschland beleuchten.
Ein Zuhause bietet auch das Institut für angewandte Paradoxie an der Universität der Künstlerrepublik Užupis: nämlich dem nichtlogischen Denken, dem bislang die Türen in den seltensten Fällen offen stehen. Was es damit auf sich hat, erläutert der Institutsdirektor Max Haarich am 19. Oktober im Gespräch mit Arkadi Junold. Der Abend dreht sich um EXPLORE THE UNTHINKABLE, einen Sammelband, der aus verschiedenen Blickwinkel die Paradoxie auf mögliche Lösungspotentiale für gesellschaftliche Herausforderungen abklopft. In welche Richtungen dieser Ansatz gehen kann, hat Max Haarich vorab in einem Interview skizziert.
Wie Menschen dem „Reich des Vergessens“ anheimfallen, hat die Autorin Lioba Happel in der Demenzpflege mit eigenen Augen gesehen. Diese Beobachtungen bilden die Basis einer Erzählung, auf deren Spuren sich am 21. Oktober die Tänzerin Anne Barth, die Schauspielerin Signe Ibbeken und die Musikerin Claudia Risch begeben. Mit DEMENT – eine Performance loten die drei Künstlerinnen an diesem Abend gemeinsam aus, was das sinnliche Gedächtnis noch erinnert, wenn die Demenz um sich zu greifen beginnt.
Anke Stelling (Autorin), Annette Wassermann (Lektorin) und Sarah Käsmayr (Verlegerin und Gestalterin) sprechen mit den beiden BücherFrauen Alyssa Fenner und Kristine Listau am 25. Oktober über ein Thema, das öfters zu kurz kommt: LET’S TALK ABOUT MONEY. Gemeinsam suchen sie nach Lösungen, wie die faire Bezahlung von Frauen in der Buchbranche aussehen kann.
Für zumindest einen Abend verschiebt POETIC HAFLA am 27. Oktober die Breitengerade und verwandelt Berlin – zumindest gefühlt – in einen Ort am Mittelmeer: Zum dritten Mal in diesem Jahr begrüßt die Eventreihe mit mediterranem Flair 10 Künstler:innen und muss sich an seinem eigenen Versprechen messen lassen, für viele magische Momente zu sorgen. Moderieren wird Barack Moyal.
Zum Schluss noch einmal ein Wechsel ins akustische Register: Genau hinhören sollte man am 28. Oktober, denn bei KLANG UND KREATUR // ORAKEL, UTOPIEN UND HUNGERPUTTEN kann man dann das Flüstern der Mythen, Prophezeiungen und zukünftigen Manifeste hören. Tim Holland, Birgit Kreipe und Georg Leß lesen aus ihren neuen Gedichtbänden, in denen sie sich den imaginären, den nicht- oder mehr-als-menschlichen Stimmen widmen. Wen schon immer interessiert hat, was uns Eselsdisteln, Mungos, fleischfressende Putten und postapokalyptische Wesen über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft berichten können, sollte diesen Abend nicht verpassen.
Copyrights:
Oberste Reihe von links nach rechts: Birgit Kreipe, Signe Ibbeken, Poetic Hafla
Unterste Reihe: Klaus Ungerer, Max Haarich, Birgit Schmalmack, Andreas Prüstel&Thomas Döring