Die Lettrétage im Oktober

Was wäre das Oktoberprogramm der Lettrétage auf einer Skala von 1 bis 10? Im Prinzip alles und noch viel mehr – jedenfalls im Hinblick auf die personellen Konstellationen, denen wir dank der freien Literaturszene einmal mehr eine Bühne bieten dürfen: Solo-, Doppel- und Tripellesungen sind genauso dabei wie Podien, Performances und Literatursalons mit bis zu acht Beteiligten, on top eine internationale Preisverleihung, bei der mehr künstlerische Acts zu sehen sein werden, als man an zwei Händen abzählen kann.

Den Auftakt macht am Montag, dem 3. Oktober, der Ausklang des Festivals REIHENWEISE. VERANSTALTEN IN DER FREIEN LITERATURSZENE. Der Obertitel gibt nicht nur den Inhalt, sondern auch die Struktur vor. Organisiert von den Unabhängigen Lesereihen, präsentiert sich das Festival selbst als ein Mehrteiler, der mit Lesungen und Diskussionen Station in diversen Städten macht. Der Abschluss in der Lettrétage ist zugleich eine Premiere: nämlich der Begleitpublikation zum Festival, die dessen Gegenstand, die unabhängigen Lesereihen im deutschsprachigen Raum, aus verschiedenen Blickwinkeln beleuchtet. Dazu kombiniert sie „essayistische und künstlerische Zugänge zum Phänomen“, über deren Thesen Chris Möller und Tillmann Severin mit Raphaela Bardutzky, Son Lewandowksi, Moritz Malsch und Kinga Tóth sprechen wollen.

Ihrem multimedialen Debüt LIEDER DER DREISTIGKEIT, das Katia Sophia Ditzler tags darauf, am 4. Oktober, präsentiert, schickt sie vorsichtshalber einen Disclaimer voraus: Für die dem Band zugrunde liegenden Konzepte hege sie allein ein ästhetisches Interesse! Man darf also gespannt sein, wie sie nach dieser Maßgabe Elemente aus magischen Vorstellungen zu sieben sogenannten „Performanceritualen“ verdichtet hat. Sie drehen sich um eine imposante Reihe von Themen: (post-)sowjetische Identität, politische Mythologie, aggressive und abgründige Weiblichkeit, Propaganda und ironische Spiritualität. Der performative Teil steht dabei nicht für sich allein, sondern wird jeweils von einem Text und einem Experimentalfilm flankiert. Das Gespräch darüber führt die Autorin und Journalistin Ronya Othmann.

Am Mittwoch, dem 12. Oktober, stellt Bela Chekurishvili gemeinsam mit Moderator und „Nachdichter“ Norbert Hummelt ihren aus dem Georgischen übersetzten Gedichtband DAS KETTENKARUSSELL vor. Es geht um Erinnerung an eine Heimat in der Ferne, um Sehnsucht und eine Kindheit, die so weit zurückliegt, dass sie fast schon unwirklich erscheint – und doch, so der Anspruch, „mit den uralten Mitteln der Poesie“ wieder herangeholt werden kann. Dazu gehört auch der verstorbene, in WIR, DIE APFELBÄUME schon einmal zu Wort gekommene Vater. „Die Lektüre der Texte von Bela Chekurishvili lösen in mir eine merkwürdige Vertrautheit aus, eine Vertrautheit mit etwas Fremdem“, schreibt Jan Kuhlbrodt. Inwieweit dieses Gefühl verallgemeinerbar ist? Finden Sie es an diesem Abend doch einfach durch einen Besuch heraus.

Ein Veranstaltungsmonat in der Lettrétage wäre ohne sie kaum denkbar: Am Samstag, dem 15. Oktober, laden deshalb Soar Marongiu und Soul and the City zu THE BIG BERLIN – BERLIN’S FINEST ARTISTS AND ARTS ein. In fünf Kategorien wird jeweils the Best Artist der Hauptstadt gesucht, um ausgezeichnet zu werden. Aber auch das Publikum kommt nicht zu kurz: Wer würde nicht gerne „Coolest Fan of the Year“ werden?

Nur einen Tag später, am 16. Oktober, stehen „komplexe, stark verdichtete Meditationen über Weiblichkeit und die Rolle der Frau“ (DLF) einem „Spiegelkabinett der Depressionen“ (NZZ) gegenüber, Lilian Peters MUTTER GEHT AUS und Andrea Scrimas KREISLÄUFE. Die Lesung aus ihren Büchern ist für die beiden Autorinnen Anlass, um über SCHREIBEN UND ERINNERN miteinander ins Gespräch zu kommen. Was bedeutet es, erzählend zu erinnern oder erinnernd zu erzählen? Wie bahnt sich das, was wir „Erinnerung“ nennen, seine Wege in literarische Texte? Wie lässt sich über (Familien-) Traumata schreiben, über Dinge also, von denen niemand mehr erzählen kann, die aber dennoch transgenerationale Kraft ausüben und auf irgendeine Weise erzählt zu werden verlangen? Lässt sich der Körper mit seinen vielfachen Erfahrungsschichten „freischreiben“? Und welche literarischen Formen generiert ein solcher Ansatz?

Zu unseren üblichen Verdächtigen, die wir nicht mehr missen möchten, zählt mittlerweile auch KOOKread: Erzählen, was auf uns zukam – Sounds und Texte aus zwei Jahren Corona. Am Dienstag, dem 18. Oktober, rückt die Veranstaltungsreihe das Theater ins Rampenlicht – eine künstlerische Institution also, die besonders stark von der Präsenz des Geschehens zehrt. Elena Philipp, Redakteurin bei nachtkritik, diskutiert mit dem Dramatiker Thomas Köck, der Musikerin Mira Mann und der Autorin Magadalena Schrefel über die Folgen der Pandemie für diese Kunstform: Wird sich der Trend zu leeren Rängen und digitalen Übertragungen fortsetzen, so dass sich das Schreiben und Aufführen im Theater grundlegend weiterentwickeln muss? Wie können Texte und Songs, die vor allem durch körperliche Aktualisierung im Moment einer Aufführung leben, der pandemischen Gegenwart begegnen?

Es reiht sich eine Reihe an die andere: Am Mittwoch, dem 19. Oktober, nimmt die 13. Ausgabe von „Let’s Talk About Class“ Klasse & Queerness im TV die Darstellung queerer Personen im deutschen Fernsehen in den Blick. Wie es um den Status quo bestellt ist, weiß wohl kaum jemand besser als: Lion H. Lau, Drehbuchschreiber*in für Krimiformate wie Soko Leipzig und neue Serienformate aus queerer Perspektive, der Schauspieler Lamin Leroy Gibba, der etwa im Kurzfilm HUNDEFREUNDE einen queeren Charakter verkörpert, sowie die Staff-/Headwriterin Jasmina Wesolowski, deren Serienfolgen u. a. auf ZDFneo zu sehen sind. Kuratiert und moderiert wird der Abend von Sarah Claire Wray und Charlotte Milsch.

Weiter geht es am Freitag, dem 21. Oktober, mit Gedenkt, Geist verrenkt – Dreiklang der Poesie. Gemeinsam stellen Manfred Eisner (BERUHIGUNGSPILLEN IM OBSTSALAT mit Zeichnungen von Olga Motta), Andreas Rössiger (RÜCKGEDANKEN) und Michael Janßen (ABSCHIEDNEHMEN MIT WORTEN) verschiedene Formen der Lyrik vor. Dabei werden sie musikalisch begleitet von Michael Gechter.

Bis an die Lippen bewaffnet – Das große Sprachfressen ist die nächste Leseperfomance eines in der Lettrétage alles andere als unbekannten Quintetts, das sich aus Cennet Alkan, Wilfried Happel, Signe Ibbeken, Sabine Schönfeldt und Udo Agnesens zusammensetzt. Ihre Sprachshow lädt am Sonntag, dem 23. Oktober, ein zum Umbau der Welt, wie sie scheint, in eine, wie wir sie gerne hätten, lädt ein zum Ab- und Verdichten der Wirklichkeiten, wie sie uns gefallen: Es führt auf die Insel seligen Schaffens von Texten und lässt verschiedene Sprachen zusammenklingen, sodass der Turmbau zu Babel endlich vollendet werden kann. Noch Fragen?

„Let’s Talk About Class“ legt indes nicht die Hände in den Schoss, sondern organisiert bereits am Mittwoch, dem 26. Oktober, seine 14. Ausgabe: Arbeit im „Arbeiter- und Bauernstaat“ dreht sich um einen zentralen ideologischen Baustein der untergegangenen DDR. Zusammen mit der Autorin und Regisseurin Grit Lemke sowie Anne Seeck, die sich u. a. als Erwerblosenaktivistin gegen Hartz IV einsetzte, wollen Paula Fürstenberg und Katharina Warda diesen Baustein von mehreren Seiten betrachten: Inwieweit verfuhr das Regime in puncto Arbeit diskriminierend und repressiv? Wo gab es vielleicht aber auch Momente der Befreiung? Und welchen Einfluss haben diese Vorstellungen bis heute?

Bis einen Tag vor Monatsende reizen wir den Oktober voll aus. Im Rahmen von SALON 1 – Literatur & Kunst, Kritik & Visionen, dem Startschuss zu einer Reihe von Literatur- und Kunstsalons, stellt der Kopf & Kragen Literaturverlag am Sonntag, dem 30. Oktober, seine neuesten Erscheinungen vor. Dazu gehört die Anthologie U8 UNTERGRUNDMINIATUREN, die diese berüchtigte Berliner U-Bahnlinie als ein „Hieronymus-Bosch-Gemälde in Bewegung“ beschreibt. Was darauf zu sehen ist, zeigen an diesem Abend Arad Dabiri, Veronique Homann, Marius Hulpe und Sven Pfizenmaier in Auszügen. Daneben präsentiert Poljak Wlassowetz in Begleitung von Cris Koch und Roxana Safarabadi seinen neuesten Roman LITIOTOPIA in einer multimedialen Spoken-Word-Performance. Angesiedelt im Berlin der nahen Zukunft, folgt der Roman Amaru Federmann, dem Erben des weltweit größten Lithium-Imperiums, auf seiner durch Träume ausgelösten Suche nach einer Kindheitsgefährtin, die sich mittlerweile einer revolutionären Umsturzbewegung angeschlossen hat. Die Spur führt nach Bolivien – und in dessen Mythen. Abschließend gibt Bella Bambino ein Konzert, so dass neben Lesung und Performance auch mit Musik und Tanz gefeiert werden kann.