Die Lettrétage im Mai

Alles neu macht der Mai, heißt es. Dieser Mai macht – wenn auch wortspielerisch riskant – Berlinclusive! Das ist nicht nur der Titel einer von der Lettrétage angestoßenen und öffentlich geförderten Veranstaltungsreihe, sondern auch Programm: Es geht um nichts Geringeres als die Feier einer gemeinsamen Vision diverser Berliner Literaturen und derjenigen, die sie machen, mitsamt ihren Praktiken und Öffentlichkeiten. Die Themen und Impulse kommen aus der freien Literaturszene. Auf Einladung der Lettrétage leuchten drei Kurator*innen gemeinsam mit Berliner Literaturschaffenden und im Gespräch mit dem Publikum die Dimensionen von Literatur als sozialer Praxis aus. Im Blickpunkt stehen Barrieren im Literaturbetrieb wie Alter, Gender und Digitalität. Und: Wie kann die Berliner Kunst- und Literaturszene abseits von Nischen und Paralleldiskursen einen Resonanzraum für ihre diversen künstlerischen Praktiken erhalten, der ihre Vielfalt widerspiegelt? Welcher Strukturen, Kenntnisse und Kompetenzen bedarf es, um langfristig Sichtbarkeit, Partizipation und gesellschaftliche Reflexion zu ermöglichen?

Los geht es am 17. Mai mit Zerbrich deine Sprache, einem Abend auf Deutsch und Französisch mit interlinguistischen Vorschlägen, der von Delphine de Stoutz kuratiert wird und sich dem Aspekt „Gender“ widmet. Maïmouna Coulibaly, Chloé Lechat, Saskia Nitsche und Jayrôme Robinet fragen danach, welche Instrumente Frauen in einer patriarchalisch geprägten Sprache und Kultur zur Verfügung stehen, um sich selbst zu benennen und zu verwirklichen. Kurz: Wie schreibt man in postpatriarchalen Zeiten?

Das Alter bildet am 23. und 24. Mai den zweiten Schwerpunkt der Reihe. Die Schriftstellerinnen Cornelia Becker und Miku Sophie Kühmel sprechen – mit Verdolmetschung in Deutscher Gebärdensprache – jeweils mit der Dragqueen Audrey Naline über das Alter(n) im Literaturbetrieb, während die Maskenbildnerin Aisha King die beiden Autorinnen im Laufe des Gesprächs in ihr älteres bzw. jüngeres Ich verwandelt. Es geht um Texte, von denen sie selbst glaub(t)en, dass sie besonders gelungen waren, und Texte, die – vielleicht zu ihrer eigenen Überraschung – gut angekommen sind. Silber, Bronzer, Gold – Zwei Abende über das Alter(n) im Literaturbetrieb will herausfinden, was Erfolg im Literaturbetrieb ist und wie das mit dem Alter zusammenhängt.

Inklusivität hat sich indes auch die sechste Auflage des Branchentreffs Literatur auf die Fahnen geschrieben, der nach zwei Jahren analoger Abstinenz endlich wieder in Präsenz in der Lettrétage stattfinden kann. Alljährlich bietet der Branchentreff Soloselbstständigen aus dem Literaturbetrieb eine Plattform zum Austausch und zur Vernetzung, diesmal erstmals mit Programmpunkten in Deutscher Gebärdensprache. Unter dem Motto Team Spirit. Netzwerke, Kollektive, Banden werden dabei vom 6. bis zum 8. Mai Formen der Zusammenarbeit diskutiert und erprobt. Um die Perspektive der internationalen Community in Berlin einzubeziehen, stehen zudem ebenso Workshops und Panels auf Englisch zur Auswahl. Und das alles kostenfrei!

Und dann gibt es natürlich auch wieder ein vielfältiges Angebot aus der freien Szene! Am 9. Mai startet die neue Veranstaltungsreihe von KOOKread, die wir in diesem Jahr beherbergen dürfen. Erzählen, was auf uns zukam – Sounds und Texte aus zwei Jahren Corona, so das übergreifende Thema, schaut sich zum Auftakt Widerständige Ästhetiken an. Das Anschauungsmaterial stammt von Heike Geißler und Max Czollek sowie dem Musiker Vincenz Kokot aka my sister grenadine. Sie lesen und performen neue Werke und sprechen mit Moderatorin Chris Möller darüber, welche Rolle soziale Fragen und gesellschaftspolitische Diskurse in ihrer künstlerischen Arbeit spielen, und welche Kraft die Kunst hat, um an gesellschaftlichen Veränderungen und Umbrüchen mitzuwirken.

Nur einen Tag später, am 10. Mai, ist Herbert Genzmer mit seinem zwischen Phantastik und Science-Fiction changierenden Roman LIQUID zu Gast. Der Plot: Die Biochemikerin Madeleine Alberti wird in eine künstlich geschaffene Agrarstadt mitten in der Wüste New Mexikos geschickt, um dort als Forscherin an einem Bewässerungsprojekt mitzuwirken. Tatsächlich aber wird an diesem Ort mit neuartigen bargeldlosen Zahlungsmethoden experimentiert – insbesondere mit einem liquiden Chip, der, einmal in den Menschen implantiert, als Kredit‐ und Informationsträger dient. In der Form eines Thrillers werden so die Vor- und Nachteile einer bargeldlosen Ökonomie diskutiert. Hinzu kommen, so Guntram Holzapfel in der Printausgabe der Zeitschrift Phantastisch (2/22), „skurrile Einsprengsel und unerwartete Farbtupfer, die dem Buch zusätzlich zu seinen Hauptthemen Bargeldabschaffung bzw. taktisches Machtpokern getarnt als Krisenmanagement, eine in Teilen recht beängstigende Aktualität verleihen“.

Titel entscheiden wir später ist die Parole von Mara Genschel und Bertram Reinecke am 15. Mai, wenn sie ihre neueste Prosa vorstellen. Bertram Reinecke interessiert sich für Fiktionen, die im Kleid von Sachtexten auftreten. Eigentliche Helden seines Bandes GESCHLOSSENE VORGÄNGE sind Sinnhorizonte samt den darin verbauten Theorien. Oder wie die Leipziger Zeitung schreibt: „Die hohe Kunst, wie man höchst aufregende Legenden und Artefakte produziert.“ Mara Genschel hingegen arbeitet an einer Methode für Prosa, die Klappentext insofern obsolet macht, als dass sie gar nicht erst „erscheint“. Aber tut sie das wirklich? Auf der Bühne, die hier auch eine Lesebühne ist, versucht sie, diesem Publikationsansatz durch Leibhaftigkeit zu entsprechen, vielleicht schafft sie es gar, die Rahmenhandlung nicht zu zerstören.

Am 19. Mai sind Tiere und Topfpflanzen als Publikum herzlich willkommen! Cennet Alkan, Margarete Groschupf, Wilfried Happel, Signe Ibbeken, Sabine Schönfeldt und Udo Agnesens laden zu Pflanzen, Tiere, Sensationen ein, einer Leseperfomance, bei der einiges zu erwarten ist: Erleben Sie eine Frau, die jede Nacht von Brennnesseln nach draußen gelockt, einen Mann, der vom Wasser verschlungen, eine Jägerin, die von Wölfen zur Anführerin gemacht, eine Frau, die von einer Palme in die Pflicht genommen wird, eine Distel, die einen Tiermenschen befruchtet und eine Blume, die zur Mörderin an einem Mann wird. Die Verhältnisse haben sich geändert, die nichtmenschliche Welt hat übernommen. Lassen wir uns von ihr verführen.

Sie wollten ursprünglich im Februar kommen, mussten aber kurzfristig umdisponieren: Jetzt freuen wir uns bei Man ruht in deutschen Betten so weich am 21. Mai zum einen auf Andreas Montag und seine Erzählung GLÜCKLICHE MENSCHEN. Sie handelt von zwei jungen Leuten aus dem Osten Berlins. Paul, der Musik machen will, arbeitet als Hausmeister. Seine Freundin Linda hat ihr Studium geschmissen, ein Kind bekommen und kellnert wieder. Sie kommen gerade so über die Runden, zumal Pauls Eltern aushelfen können. Nun erleben beide, Linda und Paul, eine magische Nacht: getrennt. Wirklichkeit und Traum berühren sich. Und es geht natürlich um alles. Auch um das Glück. Zum anderen sind wir gespannt auf Michael Spyra und sein Gedichtband DIE BERICHTE DES VOYEUR, der 100 zwischen 2017 und 2021 entstandene Liebesgedichte vereint. In vier Kapiteln geht der Lyriker auf eine Reise durch die Abgründe, auf die Höhenzüge von Liebe und Lust. Formal streng, sind sie doch gleichzeitig überbordende und durchaus in Alltagssprache immer wieder den Gegenstand der Sehnsucht umkreisende Gebilde, die vom Beobachten einer Sie, eines Er berichten.

Nach den Höhenzügen von Liebe und Lust folgt fast unmittelbar Hohe Gefahr – Neue Gedichte am Rand des Abgrunds: Am 22. Mai liest Gad Kaynar-Kissinger, einer der bedeutendsten israelischen Dichter. Seine Gedichte sind eine wilde Mischung, mal zart, mal überraschend oder auch schockierend. Sie sind anspielungsreich und greifen weit aus: auf antike und moderne Literatur, Mythologie, Alltagskultur und die Künste. Gemeinsam mit dem Berliner Autor Erez Majeratz unternimmt er eine Reise in eine One-Pot-Welt ein, in der alles mit allem verschmilzt: Liebe mit Liebe, Alter auf der Schwelle mit gotischen Kindheitsalpträumen, reifer Eros mit verspieltem Thanatos, Pan mit der Pandemie, das Persönliche mit dem Politischen, Apokalypse und Auferstehung in einem.

Am 25. Mai lädt das Kollektiv WIESE zum vierten Mal in Die unsichtbaren Stadt ein, diesmal zu einer gemeinsamen Lesung mit dem Kollektiv Versatorium aus Wien. Der Abend geht zurück auf zwei Treffen im Juni und September 2021, bei dem die beiden Gruppen im Rahmen des Creative Europe-Projekts SMASHING WOR(L)DS gemeinsam übersetzten. Kein Thema stand am Anfang, sondern ein Gespräch über die Erfahrungen mit dem Übersetzen in Gemeinschaft. Wie aber kommt es zu einem gemeinsamen Projekt an einem Gegenstand, zu einem Thema?

Wie es sich für den Mai gehört, klingt der Wonnemonat nicht ohne Liebe aus. Dafür sorgt einmal mehr Soul and the City: mit Love & Politics am 26. Mai, wo es um Politik aus Liebe und Liebe aus Politik geht – und einige tödliche Küsse dazwischen. Manche sagen „alles ist Politik“, andere sagen „alles ist Liebe“, und die Wahrheit liegt dazwischen. Diese Veranstaltung soll das soziale und politische Bewusstsein schärfen und gleichzeitig Vielfalt, Individualität und verschiedene Kulturen in einer Atmosphäre erstaunlicher Schwingungen feiern, mit multidisziplinären Performances und einer Reihe von zum Nachdenken anregenden künstlerischen Darbietungen.