Die Lettrétage im Juni

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Ausgeglichenheit ist des Juni Sache nicht – zumindest, was die Verteilung der Termine in unserem Programm angeht. Während die Herzen von Lettrétage-Aficionados bei der Aussicht auf zweimal vier Veranstaltungen unmittelbar hintereinander hoffentlich höher schlagen, steht die Herzfrequenz des Abenddienstes auf einem anderen Blatt. Freuen kann man sich auf jeden Fall wieder auf eine Mischung aus Neuerscheinungen, Independent-Projekten und etablierten Lese- und Performance-Reihen.

Am 2. Juni verspricht der SERPENT nichts weniger als „Spektakel! Klimax! Keine Langeweile!“ Im Januar 2017 aus dem Ei geschlüpft, hat sich das Literaturmagazin, „die Psychopathologien des Alltagslebens in einer Großstadt“ umkreisend, nunmehr bis zur 14. Ausgabe durchgeschlängelt. Für EIN ÄCHZEN UND STÖHNEN UND SCHWÄRMEN wollen an diesem Abend die in der aktuellen Ausgabe mit Texten Vertretenen sorgen: Mario Laatsch, Ariane Hassan Pour-Razavi, Clemens Schittko, Jannis Poptrandov, Arthur Glaubig sowie Florenz Bransche und Teresa Maria Metzinger, die das Magazin herausgeben. Mit den beiden konnten wir vorab ein Interview über dieses Projekt führen.

Einen akademischen Blick zurück wirft am 8. Juni NOSTALGIC IMPULSE: THE BOOK ILLUSTRATIONS OF MARC CHAGALL, um eine bislang wenig erforschte Facette von dessen Werk zu erhellen. Anhand dreier Bücher, die Chagall illustrierte, erkundet Jessie Kerspe, wie bei ihm die Visualisierung von Nostalgie und das Zusammenspiel von Texten und Bildern funktionieren. Begreift man diese Bücher als Trilogie, lässt sich die dreifache Identität des Künstlers als Franzose, Jude und Russe nachvollziehen. Gleichzeitig macht es dieser Zugang möglich, Chagalls Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Diskussion über Nostalgie zu erschließen.

„Habe ich mich besoffen machen und verführen lassen? Wieso denn eigentlich derart begeistert?“ fragt sich ein Rezensent im Signaturen-Magazin, nachdem er Daniel Breuers jüngsten Roman gelesen hat. Ob tatsächlich Alkohol oder andere Becircungsstrategien im Spiel waren, wird am 9. Juni GRAND MAL zeigen. Gastgeber ist Klaus Ungerer, der abgesehen von dieser Geschichte einer Freundschaft im Chile der 1990er bis 2020er Jahre ebenso Ligia Liberatori auf die Bühne holt, eine Sängerin, Performerin, Komponistin und Klinikclownin. Ach ja, und selbst lesen will Ungerer übrigens auch.

Was es literarisch bedeutet, UNTERWEGS IN NETZWERKEN zu sein, diskutiert am 14. Juni Moderatorin Kathrin Bach mit einer Runde, in der alle eines gemeinsam haben: druckfrische, bei der etcetera press berlin erschienene Texte. So werden zu Fragen, inwieweit sich z. B. Soziale Medien als Veröffentlichungsplattformen nutzbar machen lassen, Kostproben gereicht. Das Duo Isobel Markus und Florian Schochow präsentiert seinen Band BERLIN – SZENEN EINER STADT mit Unterwegsgeschichten aus Berlin, Christiane Quandt liest aus ihrem Lyrikdebüt AUF DEM ZAUBERBERG IST KEIN PLATZ MEHR FÜR ALLE, während Elke Bludau und Erec Schumacher ihre visuell-poetische Kollaboration KINDNESS ALWAYS KINDNESS vorstellen. Auch Erec Schumacher hat uns als Verleger im Vorfeld Rede und Antwort gestanden.

Apropos Kostproben – am 15. Juni gibt es sie in Form von Weißwein, Pastis und Pâte de coings buchstäblich. Denn DER KAMPF UM DAS SCHLOSS, ein in der Provence angesiedelter Roman, soll nicht nur seinen Weg in den Gehörgang, sondern auch in die Mundhöhle finden. Es ist eine semi-autobiographische Geschichte, die der Kunsthistoriker Julius Meier-Graefe 1935, wenige Monate vor seinem Tod, in einem Ort an der französischen Riviera abgeschlossen hatte. Das bis vor Kurzem im Deutschen Literaturarchiv Marbach verborgene Manuskript ist dank Berlinica Publishing ans Licht der Öffentlichkeit gekommen. Die Handlung dreht sich um den Alltag, den der Autor nach seiner Emigration aus dem nationalsozialistischen Deutschland zu leben gezwungen war. Ein, um mit dem Klappentext zu sprechen, „ironisches Sittengemälde des ländlichen Südfrankreichs“.

Just aus Frankreich stammt auch einer der zahlreichen künstlerischen Acts, die am 16. Juni bei LOVE, SWEAT AND LAUGHTER zu sehen sein werden. Soul and the City, ein regelmäßiger Gast in der Lettrétage, bleibt sich dabei treu, indem es einmal mehr verschiedenen Arten von Kunst ermöglicht, sich zu manifestieren, zu verflechten und zusammenzuwachsen, mit dem Ziel, nicht nur zum Nachdenken anzuregen, sondern auch hautnahe Emotionen und tiefgründige Gesten zu schaffen.

„Warum Queer*SF das nächste große System-Update der Science-Fiction ist“, versprach Aiki Mira zwar in einem anderen Zusammenhang zu erklären, aber RAINBOW IN SPACE am 17. Juni wäre dafür sicherlich mindestens ebenso gut geeignet. Der Abend umfasst die Romane NEONGRAU von Aiki Mira, der 2112 im von Starkregen überfluteten Hamburg spielt, und DAS GEFLECHT von Jol Rosenberg, „eine Abenteuergeschichte rund um interkulturelle Begegnungen, eigene Werte und Geschlechterverhältnisse“ sowie eine Kurzgeschichten-Anthologie von Aşkın-Hayat Doğan. Liv Kątny moderiert und BolBola performt.

Zurück in die noch nicht allzu ferne Vergangenheit: 24 Stunden im Juli 2007 nimmt die Handlung von Alain Farahs Roman MILLE SECRETS MILLE DANGERS ein, um den es am 19. Juni im Rahmen der deutsch-kanadischen Veranstaltungsreihe BOOK AND YOU geht (die in diesem Fall, anders als der Titel vermuten lässt, auf Deutsch und Französisch stattfindet). Vom Komitee des Governor General’s Literary Awards als „a tragicomic fresco where the art of storytelling is a source of great reading pleasure“ gewürdigt, erzählt der Roman davon, wie die Aussicht auf den eigentlich schönsten Tag im Leben von Alain immer düsterer wird. Je näher die Hochzeit mit Virginie rückt, desto schlechter fühlt er sich. Trotzdem hofft er, dass alles gut geht. Doch dann kündigt sich auch noch jemand an, dessen Name er mit Schmerz und Scham verbindet.

Wer Alain Farahs Buch auf Deutsch lesen möchte, muss sich noch ein wenig gedulden. Unter welchen Bedingungen solch ein Übersetzungsprozess abläuft, ist aber bereits am 21. Juni Thema. Unter dem Titel KUNST, ARBEIT, MONEY – ÜBERSETZERIN SEIN HEUTE diskutieren die Übersetzerinnen Katy Derbyshire, Conny Lösch und Johanna Schwering etwa über den Einfluss von KI-Übersetzungsapps und die ökonomische Situation des Buchmarkts. Die Moderation übernehmen die BücherFrauen-Regionalsprecherinnen Alyssa Fenner und Kristine Listau.

S C H V I C E R L A VI D – bitte was? So steht es in einem Heft, das die fünf oder sechs Jahre alte Ivna für Schreibübungen nutzte. Eine Mischung, wie sie in ihrem autofiktionalen WAHRSCHEINLICHE HERKÜNFTE ausführt, aus d’Schwiiz (Schweizerdeutsch), Švicarska (Kroatisch) und der deutschen Schweiz. „Und irgendwo hatte sich das ‚Land‘ eingeschlichen.“ Ivna Žic öffnet auf diese Weise Zugänge zu den völlig unterschiedlichen Welten ihrer beiden Großmütter und des schweigsamen Großvaters. In deren Leben spiegeln sich europäische Geschichte und eine untergegangene Welt, die nach wie vor in den Nachgeborenen weiterlebt und deren Handeln bestimmt. Mit der Lesung am 22. Juni wird zugleich die Verleihung des Anna Seghers-Preis 2020 nachgeholt. (Die Veranstaltung muss krankheitsbedingt leider ausfallen.)

In die fünfte Runde geht am 23. Juni Isobel MarkusBERLINER SALONAGE FRAUENART – BACK, NOW & THEN. Diesmal werden weibliche Lust und Liebe je zehn Minuten lang aus verschiedenen Blickwinkeln und mit unterschiedlichen Medien unter die Lupe genommen. Anna Hoffmann trägt dazu Gedichte aus dem Band VLUST vor; Tanja Langer liest lustvolle Stellen aus NÄCHTE AM RANDE DER INNEREN STADT und KLEINE GESCHICHTE VON DER FRAU, DIE NICHT TREU SEIN KONNTE, Susan Madsen zeigt Fotografien von den ruhigen flüchtigen Dingen, die mit Energie, Voyeurismus und Vorurteilen aufgeladen sind; Franziska Hauser steuert einen Text mit dem Titel HAUSMEISTERSEX bei; und Aurélie Maurin stellt ihr Musikprojekt FRENCH SHUI vor – eine Allianz aus Bossa und Chanson, in der sich verschiedene Sprachwelten begegnen.

EIN TRAUMHAFTER ABEND wartet am 25. Juni. In ihrer Leseperformance setzen sich Sabine Schönfeldt, Signe Ibbeken undWilfried Happel mit der Frage auseinander, woher die poetische Kraft von Träumen kommt, warum sie das Unmögliche möglich machen und was sie in unserem Leben bewirken können. Sie erzählen sich wahre Traumerlebnisse und geben Einblicke in die geheimsten Winkel ihrer Gehirne.

Die Lesung aus Eva Tepests Essaysammlung POWER BOTTOM hätte eigentlich am 12. April stattfinden sollen, musste aber auf den 27. Juni verschoben werden. Aufgeschoben heißt zwar bekanntlich nicht aufgehoben, in diesem Fall aber doch ein bisschen, zumindest gilt das für Teile des Ankündigungstexts aus der damaligen Monatsübersicht: Die Texte kreisen um die Frage, wo die Grenze zwischen subjektiver Lust, sexueller Identität und gesellschaftlicher Norm verläuft. Von Pornhub bis zu Erika Lust, von katholischem Kink bis hin zur Frage nach queerer Scham öffnen sie ein Kaleidoskop aus intimen Betrachtungen und kritischen Auseinandersetzungen.

Copryrights:

Oberste Reihe von links nach rechts: Arkadien Verlag; Sabine Schönfeldt, Signe Ibekken; Ingrid Pointecker; Serpent Magazin; Katharina Manojlovic

Mittlere Reihe: Eva Schweitzer; Susan Madsen; Erec Schumacher

Untere Reihe: Soul and the City; Polly Schroiff, Anna Pietsch, Sibylle Baier; Diana Davies Collection / New York Public Library; Klaus Ungerer; Book and you