Der vergessene Freund (II)

Helsinki

Nuoren Voiman Liitto, eine über 90 Jahre alte und staatlich geförderte Institution, die eine traditionsreiche Zeitschrift für junge Literatur herausgibt, junge Autoren unterstützt und Veranstaltungen ausrichtet, ist wahrscheinlich DER Ansprechpartner für junge Literatur in Finnland. Blödsinn: Natürlich gibt es jede Menge Ansprechpartner, und man sollte den Blick nie auf eine Deutungsperspektive verengen. Jedenfalls schafft es NVL, eine Scharnierfunktion zwischen offiziellem Literaturbetrieb und junger Szene zu erfüllen. Altbacken ist allenfalls das Logo, das der ersten Ausgabe der Zeitschrift Jugend entnommen sein könnte. Ansonsten ist es ja auch mal ganz schön zu hören, dass eine Institution der dezidiert jungen und experimentellen Literatur mit fünf festen Stellen ausgestattet ist.

Am Montagabend hatte Nuoren Voiman Litto für die deutschen Gäste eine Autorenlesung in einer Bar in Helsinki organisiert. Besonders haben mich die Lyriker beeindruckt: Teemu Manninen, der gerade vom Berliner Versschmuggel zurückgekehrt war, wo er Norbert Lange übersetzt hatte, der experimentelle Dichter Eino Santanen sowie Olli Heikkonen, den ich bei seiner Lesung in der Lettrétage 2009, damals vermittelt über Jan Wagner, verpasst hatte. Im Bereich Prosa fassen erstaunlich viele, auch junge Autoren das Große ganze ins Auge. Auseinandersetzungen mit geschichtlichen Themen sind an der Tagesordnung, so beispielsweise der Roman Jokapäiväinen elämämme von Riikka Pelo, in dem es um die russische Dichterin Marina Tswetajewa und die frühe Sowjetzeit geht, oder Katja Kettus Kätilö (dt. „Die Hebamme“), ein Roman, der zur Zeit des Zweiten Weltkrieges in Lappland spielt.

Wir schwänzen die Poetik-Konferenz

Tagsüber am Montag hätte die Möglichkeit bestanden, in die jährliche Autorenkonferenz hineinzuschnuppern, die zeitgleich im 90 Kilometer entfernten Lahti stattfand und die finnische sowie internationale Autoren für Poetik-Vorträge und –Diskussionen versammelt. Dort wären wir mit Olga Gjrasnowa auf eine (junge) alte Bekannte getroffen. Wir entschieden uns dagegen, auch weil die Zeit nur für eine Stippvisite gereicht hätte, und entschlossen uns, nächstes Jahr von Anfang an an dem Festival teilzunehmen.

Ehrwürdiges und Exotisches

Im Rahmen des offiziellen FILI-Programms lernten wir mehrere wichtige Institutionen des finnischen Literaturlebens kennen. Dazu zählt die Deutsche Bibliothek. Diese ist nicht mit ihrer Namenscousine in Frankfurt und Leipzig vergleichbar. Sie entstand bereits im 19. Jahrhundert, als die zwölf deutschstämmigen Familien in Helsinki vereinbarten, pro Jahr je ein deutsches Buch zu beschaffen und die so mühsam angesammelten Bestände zu teilen. Old School Sharing Economy. Heute ist die Bibliothek dann doch deutlich angewachsen und sammelt vor allem deutschsprachige Bücher mit Finnlandbezug. Aber auch unsere Bände Schriftproben und Re-covered sind auf Initiative eines deutschen Kleinverlegers nunmehr dort vertreten!

© Moritz Malsch

Eine Eigenart des finnischen Literaturbetriebs ist, dass Lesungen in unserem Sinne von Prosa-Autoren unüblich sind. Stattdessen werden öffentliche Gespräche ÜBER die Bücher angeboten. So auch für uns in der deutschen Bibliothek: Der finnische Rundfunkjournalist Seppo Puttonen stellte die Autoren Markus Nummi (dessen Roman Bonbontag auf Deutsch bei Suhrkamp erschienen ist), Aki Ollikainen (2013 in Kiel beim Europäischen Festival des Debütromans vertreten) sowie die bereits am Vorabend kennengelernte Katja Kettu vor.

Die Villa Kivi ist nach dem Gründervater der finnischen Nationalliteratur Aleksis Kivi benannt. Sein Roman Die sieben Brüder von 1870 soll der erste auf Finnisch publizierte Roman überhaupt gewesen sein. Ob dies genau so stimmt oder nicht, jedenfalls macht es deutlich, wie jung die finnische Literatur und auch die nationale Identität Finnlands noch sind. Die Villa Kivi ist ein malerisch am Wasser gelegenes Holzhaus mit einer Reihe Nebengebäuden, die günstig an Autorinnen und Autoren vermietet werden, die an einem literarischen Projekt arbeiten. Dies gilt auch für ausländische AutorInnen, soweit ich das verstanden habe. Vorteil gegenüber dem LCB: Die Sauna ist, wie überall in Finnland, im Preis inbegriffen.

Unser Aufenthalt in der Villa Kivi am Mittwoch diente unter anderem zweierlei Begegnungen: Zum einen der mit Tuula Haavisto, der Leiterin des Bibliotheksamtes, die über die immense Rolle der Bibliotheken im finnischen Alltagsleben und Bildungssystem referierte sowie den geplanten großen Bibliotheksneubau in Helsinki vorstellte. Rund 80 Prozent der Finnen sind regelmäßige Leser und Bibliotheksbenutzer. Zum anderen sprach die Fernsehmoderatorin Minna Joenniemi, ein funkensprühendes Energiebündel. Man verstand, wie sie es geschafft hat, dem finnischen Fernsehen zehn Jahre lang eine Primetime-Lyriksendung unterzujubeln. „Die Lyrik-Jury“, die bis vor Kurzem regelmäßig lief und sehr beliebt war, drehte zunächst professionelle „Videoclips“ von Gedichtlesungen, und anschließend vergab eine Jury aus Prominenten Punkte. Der Wettbewerbscharakter der Sendung sowie ihre zwangsläufig etwas populärere Ausrichtung mögen nicht jedermanns Sache sein; beeindruckend fand ich, wie sie das Format immer wieder veränderte und in alle Richtungen erweiterte. Von ihr ist mir auch der denkwürdige Satz in Erinnerung geblieben, im Fernsehen gehe es um „ordinary people, doing extraordinary things or extraordinary people doing ordinary things.“

Morgen: Mit Leevi Lehto im Café Kappeli